Tatort: Ukraine

Eine völkerstrafrechtliche Einordnung

Die Bilder aus Butscha gingen im Frühjahr 2022 um die Welt: In einem Massengrab fanden sich Dutzende Leichen, die laut Obduktion keinen natürlichen Tod gefunden hatten. Auch in anderen Städten wurde von ähnlichen grauenvollen Funden berichtet, die als Kriegsverbrechen beklagt wurden. Schnell wurde der Verdacht eines Genozids laut. Doch wie ist die Lage ein halbes Jahr nach dem Leichenfund zu bewerten? Welche rechtlichen Konsequenzen folgen aus diesem Fund? Und welche Auswirkungen hat die strafrechtliche Einordnung des Leichenfundes auf die zwischenstaatlichen Beziehungen der internationalen Gemeinschaft? Im Webtalk „Tatort: Ukraine“ der Landeszentrale für politische Bildung (LpB) und der Volkshochschule Ostfildern diskutierte Moderatorin Gabriele Forst mit drei Experten über diese Fragen.

Kriegsverbrechen, Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Diese Begriffe kennt jeder. Die wenigsten aber wissen, was sie eigentlich bedeuten. Im Webtalk „Tatort: Ukraine“ brachten eine Expertin und zwei Experten Licht ins Dunkel. Angefangen mit dem Begriff des „Kriegsverbrechens“: Wenn es Kriegsverbrechen gebe, müsse es auch ein Kriegsrecht geben, stellte Gabriele Forst einführend fest. Was aber hat es mit diesem Recht auf sich, das vielen juristischen Laien oft paradox erscheint. Denn wie kann es rechtmäßig sein, dass Menschen aufeinander schießen?

 

Kriegsrecht als historische Errungenschaft

Zunächst gelte es die große Errungenschaft anzuerkennen, dass Kriege rechtlich geregelt seien, sagte Stefanie Bock, Professorin für Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Rechtsvergleichung an der Philipps-Universität Marburg. Bock leitet seit 2018 das dort angesiedelte Internationale Forschungs- und Dokumentationszentrum Kriegsverbrecherprozesse.
Mittlerweile gebe es komplexe Regelungen darüber, wie in bewaffneten Kriegen miteinander umgegangen werden dürfe, führte Bock aus. So differenziere man zwischen „völkerrechtlich zulässiger“ und „völkerrechtlich unzulässiger“ Gewalt. Ein Beispiel: Ein kämpfender Soldat dürfe andere kämpfende Soldaten töten, Zivilisten aber nicht. Würde er es trotzdem tun, beginge er ein Kriegsverbrechen.

Wie leicht aber ist die Differenzierung in der Praxis? Nicht besonders leicht sei es jedenfalls, Angriffe auf rein militärische Ziele zu beschränken, sagte Stefanie Bock, um an der Stelle den vielzitierten Begriff des „Kollateralschadens“ in die Diskussion einzuführen. Dieser nämlich beschreibt den Fall, dass Zivilisten zu Tode kommen, obwohl der Angriff ursprünglich einem militärischen Ziel galt. Fällt der Kollateralschaden an der Zivilbevölkerung jedoch so aus, dass er im Verhältnis zum angestrebten militärischen Vorteil nicht als maßlos bezeichnet werden kann, sei er legal, so Bock. Die Rechtswissenschaftlerin machte jedoch auf eine wichtige Differenzierung aufmerksam: So müsse das primäre Angriffsziel auf jeden Fall eine militärische Einrichtung sein. Ist das nicht der Fall, dann ist der Angriff völkerrechtlich unzulässig.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid

Eng mit dem Begriff des Kriegsverbrechens verbunden ist jener des „Verbrechens gegen die Menschlichkeit“. Was hat es damit genau auf sich und welche völkerrechtlichen Implikationen gehen mit ihm einher? Verbrechen gegen die Menschlichkeit könnten unabhängig von bewaffneten Konflikten begangen werden, erklärte Stefanie Bock. In einem theoretischen Szenario wäre es also denkbar, dass sie auch in Friedenszeiten begangen werden. Ein wesentliches Merkmal von Verbrechen gegen die Menschlichkeit bestehe darin, dass bestimmte Einzelakte – Tötung, Folter oder Sexualhandlungen zum Beispiel – in Zusammenhang mit einem ausgedehnten oder systematischen Angriff gegen die Zivilbevölkerung durchgeführt werden. Werden derartige Verbrechen nun auch an der ukrainischen Zivilbevölkerung verübt? „Rechtliche Würdigungen aus der Ferne sind immer schwierig“, betonte Stefanie Bock. Die Berichte, wonach Kinder systematisch verschleppt und Angriffe gezielt auf Wohnhäuser durchgeführt würden, seien aber ernst zu nehmen.

Ein medial verbreiteter Vorwurf lautet, die russischen Invasoren planten einen Genozid an der ukrainischen Bevölkerung oder seien bereits dabei, diesen durchzuführen. Dabei wird meist auf das Massaker im Kiewer Vorort Butscha im Frühjahr 2022 verwiesen, dem nach bisherigen Erkenntnissen mehr als 400 Zivilisten zum Opfer fielen. Das Massaker wird von Ermittlern für Kriegsverbrechen untersucht. Welche juristischen Kriterien müssen aber überhaupt erfüllt sein, damit ein Ereignis als Genozid oder Völkermord eingestuft werden kann? Die Schwelle dafür sei sehr hoch, betonte Stefanie Bock. Wer Zivilisten tötet oder Menschen in ein Getto einpfercht, erfülle die rechtliche Definition eines Völkermörders nicht. Vielmehr müsse der Akt Teil eines übergeordneten Ziels sein, das darin bestehe, eine ganze Bevölkerungsgruppe oder Ethnie zu vernichten. Den Holocaust nannte Bock in diesem Zusammenhang als Paradebeispiel. „Auf die Ukraine umgemünzt ist die Frage schwierig“, sagte Bock. Es stelle sich die Frage nach der Absicht Russlands.

Wer ermittelt in der Ukraine – und wie gehen die Ermittler vor?

Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, sind Beweise zwingend. Wer aber sammelt diese? Darüber konnte Alexander Schwarz Auskunft geben. Der Rechtswissenschaftler arbeitet als Senior Legal Advisor in der MENA-Region (kurz für: Middle East and North Africa), ist Experte auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts und hat in Deutschland Völkerstrafverfahren nach dem Weltrechtsprinzip begleitet. „Es handelt sich um eine große Gruppe verschiedener Akteure, angefangen mit der ukrainischen Generalstaatsanwaltschaft“, sagte Schwarz. Ebenso sei der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) mit dem größten Ermittlerteam seiner Geschichte mit von der Partie. Es ermittelten amerikanische und britische Teams, lokale und internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch (HRW) und Amnesty International (AI), die Vereinten Nationen, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und der Europarat. Diese Gruppen arbeiteten seit Tag eins des Krieges. Auch wenn es zwischen den Gruppen an Koordination fehle, sei die Anzahl an Ermittlern historisch hoch, so Alexander Schwarz.  

Eine wichtige Rolle bei den Ermittlungen spiele außerdem Eurojust, eine Agentur der Europäischen Union für justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen. Die Agentur habe ein gemeinsames Ermittlerteam mit Mitgliedern aus der Ukraine, Litauen, Polen und dem Internationalen Strafgerichtshof aufgestellt. Sie analysiert Beweismittel, die ihr von anderen Ermittlerteams gegeben werden, und baut eine Datenbank auf, in der sie alle Beweismittel sammelt. Beweise können Zeugenaussagen sein, Urkunden, Videos, Fotos, Satellitenbilder oder Berichte von Menschenrechtsorganisationen. Eine wichtige Frage ist außerdem, welche Gerichte berechtigt sind, Verfahren im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen zu führen. Grundsätzlich sei der Territorial- und Tatortstaat für die Einleitung von Strafverfahren zuständig, erklärte Alexander Schwarz. In der Ukraine geschehe das bereits heute. Derzeit seien 46.000 solcher Verfahren vor ukrainischen Gerichten anhängig. Einige Verfahren davon seien bereits abgeschlossen. Es habe Urteile gegeben, darunter auch das erste wegen sexualisierter Gewalt.

Die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs

Auf zwischenstaatlicher Ebene gibt es den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag. Allerdings, so Schwarz, hätten sich weder die Ukraine noch Russland seiner Jurisdiktion unterworfen. „Die Ukraine hat sich jedoch im Jahr 2014 zeitlich begrenzt unterworfen, wodurch der IStGH in der Lage ist, auf ukrainischem Territorium zu ermitteln. Dies gilt jedoch nur für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, nicht jedoch für Völkermord“, sagte Schwarz. Denn dafür wäre das sogenannte Rom-Statut relevant, und das hat Russland nicht unterzeichnet. Das Rom-Statut ist das Gründungsdokument des IStGH. Es wurde von 120 Staaten auf einer Konferenz in Rom unterzeichnet, trat 2002 in Kraft und bildet die Grundlage für die Bekämpfung schwerster Menschenrechtsverletzungen wie Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Auch in Staaten, die nicht am Krieg beteiligt sind, kann ermittelt werden. In jenen nämlich, die über das Weltrechtsprinzip verfügen. Dieses grundlegende Prinzip des Völkerrechts impliziert, dass jeder Staat verpflichtet ist, sich an das Völkerrecht zu halten und dass alle Staaten gleichberechtigt sind, sowohl im Sinne ihrer Pflichten als auch ihrer Rechte. Deutschland und Schweden gelten als Vorreiter in Bezug auf Ermittlungen im Zusammenhang mit Kriegsverbrechen, wie beispielsweise im Fall von Akteuren des syrischen Regimes oder des sogenannten Islamischen Staats (IS). Schwarz wies außerdem auf die Möglichkeit sogenannter „Strukturermittlungsverfahren“ hin. Diese Art des Ermittlungsverfahrens richtet sich nicht gegen konkrete identifizierte Beschuldigte. Stattdessen führen die Verantwortlichen Ermittlungen im Zusammenhang mit einem bestimmten Komplex durch, wie zum Beispiel dem syrischen Bürgerkrieg oder dem russisch-ukrainischen Krieg. Dabei werden Beweise gesichert, ohne zu wissen, wie sie später verwendet werden. Zeugenaussagen von Geflüchteten können hierbei sehr wichtig sein und möglicherweise später strafrechtlich relevant werden, um konkrete Verdächtige zu identifizieren. Dies wird als „antizipierte Beweishilfe“ bezeichnet.

Können auch Befehlshaber zur Rechenschaft gezogen werden?

Wenn es um individuelle Schuld im Strafrecht geht, kommt es darauf an, wen man vor Gericht stellt. Oft werden nur die unmittelbar Ausführenden angeklagt, da man nur ihre Identität kennt. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, Befehlshaber strafrechtlich verantwortlich zu machen, indem man ihnen die „Zurechnungsmöglichkeiten“ zuschreibt. Das bedeutet, dass jemand, der einen Befehl erteilt hat, Kriegsverbrechen zu begehen, oder der Kenntnis davon hatte, dass sie begangen werden, aber nichts unternommen hat, um sie zu verhindern, strafrechtlich haftbar gemacht werden kann (die „Tatverhinderungspflicht“ ist strafrechtlich relevant). In Bezug auf den russischen Präsidenten und Oberbefehlshaber Wladimir Putin ist es jedoch schwierig, die Befehlskette für einzelne Kriegsverbrechen nachzuweisen. Er sei jedoch letztverantwortlich. Deshalb sei es äußerst wichtig, die Befehlskette nachvollziehbar zu machen, sagte Alexander Schwarz.

Christian Marxsen, Forschungsgruppenleiter für ausländisches öffentliches Recht amMax-Planck-Institut in Heidelberg, äußerte sich schließlich noch zu der Frage, ob Staaten und deren Vertreter für völkerrechtswidrige Angriffskriege belangt werden könnten. Ja, sagte Marxsen, man könne die Führungsebene eines Staates wie Russland zur Verantwortung ziehen. Den Tatbestand gebe es völkerstrafrechtlich, das sehe man an den Nürnberger Prozessen. Die sogenannten „Crimes Against Peace“, Straftaten gegen den Frieden also, seien damals zentrales Moment gewesen. Diese seien vor einigen Jahren auch ins Statut des internationalen Strafgerichtshofs integriert worden. Die ukrainische Regierung sei deshalb bestrebt, Öffentlichkeitsarbeit zu leisten und Aufarbeitung zu ermöglichen. Die UN-Völkerrechtscharta verbiete zwischenstaatlichen Gewalteinsatz, betonte Marxsen. Der schwere Verstoß gegen das Gewaltverbot durch Russland sei völkerrechtlich überhaupt nicht umstritten. Die Frage sei nun, wie man das Ganze vor ein internationales Gericht bringe.

Die Ukraine bemüht sich um die Schaffung eines internationalen Sondertribunals

Nur welches Gericht könnte das sein? Möglich sei ein Prozess in Staaten, die Teil des Rom-Statuts seien. „Die Ukraine bemüht sich deshalb, dass ein weiteres internationales Tribunal geschaffen wird, in dessen Rahmen man so etwas vornehmen könnte“, erklärte Christian Marxsen. Als Vorbild könne das Jugoslawien-Tribunal dienen, das über den UN-Sicherheitsrat ins Leben gerufen wurde. Dieser Weg ist diesmal allerdings versperrt, weil Russland als Mitglied des Sicherheitsrats einem solchen Ansinnen niemals beipflichten würde. „Möglich wäre stattdessen der Weg über die UN-Generalversammlung, die ein internationales Gericht beauftragen könnte, um Aufarbeitung zu betreiben“, sagte Marxsen. Ein juristisches Problem bleibe aber auch dann bestehen: Staatsoberhäupter seien völkerrechtlich immun. Das sei in dem Prinzip begründet, wonach ein Staat nicht über den anderen richten kann. Es gelte das Prinzip der „souveränen Gleichheit der Staaten“, erläuterte Marxsen.


Dokumentation des Webtalks: Tilman Baur und Tengiz Dalalishvili (LpB BW), Januar 2023, aufbereitet durch die Internetredaktion der LpB BW


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