Der „Migrationshintergrund“
Der umstrittene Begriff der Statistiker und Integrationsfachleute – eine Pro- und Kontra-Argumentation
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Hinführung: Der umstrittene Begriff
Seit 2005 erhebt das Statistische Bundesamt den sogenannten „Migrationshintergrund“ im Mikrozensus, der größten jährlichen Haushaltsbefragung in Deutschland. Der Begriff wurde eingeführt, um Daten über die Nachkommen von Zugewanderten zu erfassen. Bis 2005 wurde nur zwischen „Ausländern“ und „Deutschen“ unterschieden.
Laut Statistischem Bundesamt hat eine Person einen „Migrationshintergrund“, wenn „sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt“. Damit haben einerseits Ausländerinnen und Ausländer einen „Migrationshintergrund“, aber auch Deutsche, die beispielsweise einen ausländischen Elternteil haben oder sich einbürgern ließen. Eine Person muss also nicht selbst zugewandert sein, um nach dieser Definition einen „Migrationshintergrund“ zu haben.
Der Begriff „Migrationshintergrund“ ist allerdings nicht unumstritten und steht seit Langem in der Kritik. Er sei nicht mehr zeitgemäß, sage nichts über Lebensrealitäten aus, werde als stigmatisierend empfunden. Als Alternativen werden unter anderem die Bezeichnungen „Einwanderer und ihre Nachkommen“ oder „Menschen aus Einwandererfamilien“ vorgeschlagen.
Auch die von der Bundesregierung einberufene „Unabhängige Fachkomission zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit“ kommt in ihrem im Januar 2021 veröffentlichten Bericht zu der Empfehlung, den Begriff „Migrationshintergrund“ nicht mehr zu verwenden. Allerdings gab es innerhalb der Fachkommission auch abweichende Stellungnahmen.
Die Pro-Argumentation: „Migrationshintergrund“ abschaffen
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Die „Fachkommission Integrationsfähigkeit“ empfiehlt nach einer ausführlichen Er-örterung auch von analytischen und normativen Gesichtspunkten mehrheitlich, das bisher im Rahmen des Mikrozensus verwendete statistische Konzept des „Migrationshintergrunds“ abzuschaffen. Dies betrifft sowohl die Bezeichnung als solche als auch die Definition der Gruppen, die in diese Kategorie fallen. Künftig sollen im Rahmen des Mikrozensus nur Personen erfasst werden, die entweder selbst oder deren Elternteile beide seit dem Jahr 1950 in das heutige Bundesgebiet eingewandert sind.
Nach Auffassung der Kommission sollen diese Personen – wie schon bislang mit den Kategorien „mit und ohne eigene Migrationserfahrung“ – getrennt ausgewiesen werden. Damit soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sie unterschiedlichen Problemlagen begegnen, so die Fachleute. Anders als jetzt soll jedoch der zusammenfassende Begriff „Migrationshintergrund“ nicht mehr verwendet werden, um eine Stigmatisierung zu vermeiden. Sofern beide Gruppen gemeint sind, schlägt die Kommission vor, als zusammenfassende Bezeichnung stattdessen „Eingewanderte und ihre (direkten) Nachkommen“ zu gebrauchen.
Daneben sollte – so die Befürworter der Abschaffung des „Migrationshintergrunds“ – weiterhin auch eine Differenzierung nach Staatsangehörigkeit (deutsch/nichtdeutsch) möglich sein. Dieses Kriterium sei für die Definition von „Eingewanderten und ihren (direkten) Nachkommen“ jedoch nicht mehr konstitutiv.
Wie aus dem Bericht der Fachkommission hervorgeht, würde sich durch die neue Definition für das Jahr 2018 eine Zahl von 18,1 Millionen „Eingewanderten und ihren (direkten) Nachkommen“ in Deutschland ergeben. Das wären rund 2,7 Millionen Personen bzw. 13 Prozent weniger als die bisherige Zahl von 20,8 Millionen Menschen mit „Migrationshintergrund“.
Die Fachkommission ist sich jedoch auch darin einig, dass auch dieser neue Begriff Probleme aufwirft. Sie schreibt dazu: „Eine ideale Lösung im Sinne eines universell einsetzbaren Begriffs, der sowohl wissenschaftliche als auch umgangssprachliche und politische Erwartungen erfüllt, ist jedoch […] nicht möglich.“
Die Kontra-Argumentation: „Migrationshintergrund“ beibehalten
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In seiner abweichenden Stellungnahme innerhalb der „Fachkommission Integrationsfähigkeit“ macht Daniel Thym, Professor für Öffentliches Recht, Europa- und Völkerrecht an der Universität Konstanz, unter anderem juristische Bedenken geltend. Er spricht sich dagegen aus, statt von „Migrationshintergrund“ von „Eingewanderten und ihren (direkten) Nachkommen“ zu sprechen. Nicht jede Person, die ihren Wohnsitz in ein Einwanderungsland verlegt, sei automatisch eine eingewanderte Person. Daniel Thym plädiert ausdrücklich nicht dafür, den Einwanderungsbegriff auf bestimmte Gruppen kurzzuschließen. Besonders virulent sind seiner Auffassung nach die Schattenseiten eines zu weiten Einwanderungsbegriff beim Umgang mit Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde oder die aus anderen Gründen dazu verpflichtet sind, auszureisen. Der Begriff „im Ausland Geborene und ihre Nachkommen“ ist seiner Einschätzung nach auch hinsichtlich juristischer Implikationen eindeutiger.
Der Experte räumt zwar ein, dass der Begriff „Migrationshintergrund“ in der öffentlichen Diskussion bisweilen eine ausgrenzende Wirkung habe, die den Anspruch aller Deutschen auf die gleiche Bürgerschaft untergraben könne. Allerdings, so Thym, dürfte der neu gefundene Vorschlag denselben Problemen begegnen – sofern es überhaupt gelingen könne, den öffentlichen Diskus davon zu überzeugen, den prägnanten Begriff des „Migrationshintergrunds“ durch die seiner Meinung nach komplexe Formel der „Eingewanderten und ihrer Nachkommen“ zu ersetzen.
Diese Bedenken teilt auch Susanne Worbs vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in ihrer abweichenden Stellungnahme. Sie plädiert für ein Beibehalten des Begriffs „Migrationshintergrund“, weil er Vorteile für die Weiterführung von Statistiken bringen würde. Barbara John, die frühere Ausländerbeauftragte des Berliner Senats und Vorsitzende des Beirats der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, sieht es in ihrer ebenfalls abweichenden Stellungnahme ähnlich. Sie geht davon aus, dass der Begriff „Migrationshintergrund“ noch längere Zeit in den Medien, in gesellschaftlichen Diskursen und auch in der Wissenschaft weiterleben wird.
Fazit: Abschaffen oder beibehalten?
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Von heute auf morgen wird der „Migrationshintergrund“, das ungeliebte Kind der Statistiker und Integrationsfachleute, sicher nicht abgeschafft werden. So wird im Datenreport 2021, der am 10. März 2021 vom Statistischen Bundesamt veröffentlicht wurde, ausführlich mit dem traditionellen Begriff des „Migrationshintergrunds“ ge-arbeitet. Hier wird der Begriff auch weiterhin in alle seinen Verästelungen erläutert. Auch der „Nationale Aktionsplan Integration“ der Bundesregierung basiert auf der Grundlage des „alten“ Migrationsbegriffs.
All diese und viele andere Analysen, vor allem auch die Integrationspolitik müssten jetzt neu aufgerollt werden, ginge es doch um fast drei Millionen Menschen in Deutschland weniger, die nicht mehr vom „Migrationshintergrund“ betroffen wären. Bisher wurden zum Beispiel Integrationserfolge auf der Grundlage der Statistik des „Migrationshintergrunds“ erfasst. Die bisherige Definition führte schon zu Merkwürdigkeiten, etwa dass teilweise Enkel und Urenkel von eingewanderten Menschen davon erfasst werden. Aber auch der neue Vorschlag bringt Kuriositäten mit sich. Beispielsweise fallen alle aus der Statistik heraus, bei denen nur ein Elternteil eingewandert ist. Das führt – so die Migrationsforscherin Anne-Kathrin Will – dazu, dass etwa der Fußballprofi Jèrôme Boateng oder der Satiriker Jan Böhmermann keinen „Migrationshintergrund“ mehr haben, während Ursula von der Leyen dazugezählt werden müsste, weil sie zwar mit deutscher Staatsangehörigkeit, aber nicht in Deutschland geboren wurde.
Wäre eine Änderung im Sinne der Fachkommission der Bundesregierung nicht zu aufwändig und würden Vergleiche mit längeren Zeiträumen, in denen mit dem „alten Begriff“ gearbeitet wurde, kaum mehr möglich sein? Oder ließen sich diese Hürden nicht doch überwinden? Aber besteht jetzt nicht trotz allem die Gefahr, dass mit dem neuen Begriff der alte umstrittene zwar abgeschafft, aber nur „alter Wein in neue Schläuche“ gegossen oder gar „das ungeliebte Kind mit dem Bade ausgeschüttet“ wird?
Wie dem auch sei, es bleibt jedenfalls zu hoffen, dass nun eine breite Diskussion um den „Migrationshintergrund“ und die vielfältigen Aspekte, die damit zusammenhängen, in Gang gesetzt wird.
Über den Autor
Prof. Dr. Karl-Heinz Meier-Braun (www.meier-braun.de) ist baden-württembergischer Landesvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e. V. (DGVN) und Mitglied im Bundesvorstand dieser Organisation. Er ist Migrationsexperte, Honorarprofessor an der Universität Tübingen und Autor zahlreicher Publikationen zum Thema Migration und Integration. Lange Jahre war er Redaktionsleiter und Integrationsbeauftragter des Südwestrundfunks (SWR).
Links
- „Unabhängige Fachkommission der Bundesregierung zu den Rahmenbedingungen der Integrationsfähigkeit“
- Statistisches Bundesamt zur Definition des Begriffs „Migrationshintergrund“
- Statistisches Bundesamt mit dem Datenreport 2021
- „Nationaler Aktionsplan Integration“ der Bundesregierung
- Mediendienst Integration zum Begriff „Migrationshintergrund“
- Mediendienst Integration: „Wird der Migrationshintergrund jetzt abgeschafft?"
Letzte Aktualisierung: März 2021, Autor: Karl-Heinz Meier-Braun, aufbereitet für das Netz: Internetredaktion LpB BW.