Tagungsbericht
75 Jahre Grundgesetz – ein Versprechen auf die Zukunft?
Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz verkündet. Der Blick der Tagung richtete sich zurück auf 75 Jahre, in denen die Verfassung die politische und gesellschaftliche Wirklichkeit der Bundesrepublik geprägt hat. Immer wieder wanderte der Blick aber auch nach vorn, verbunden mit Fragen nach den Anforderungen, denen die Verfassung künftig ausgesetzt sein wird. Veranstaltet wurde die Tagung als „Tag zu den Grundrechten“ am 18. April 2024 von der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg, der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus, der Universität Tübingen (Institut für Politikwissenschaft) und vom gastgebenden Evangelischen Bildungszentrum Hospitalhof Stuttgart.

Um dem feierlichen Anlass gerecht zu werden, haben die Veranstalter ein vielfältiges und vielschichtiges Programm zusammengestellt, dessen Dreiklang Sibylle Thelen, die Direktorin der LpB Baden-Württemberg, in ihrer Eröffnungsrede beschrieb: Es sei eine „instruktive und aktivierende Begegnung mit dem Grundgesetz für pädagogische Fachkräfte und Schülerinnen und Schüler“, eine „kritische und kontroverse Annäherung von Verfassungsexpertinnen und -experten“ sowie nicht zuletzt mit der künstlerischen Darbietung des Ensembles „OPUS 45“ eine „sinnliche, künstlerische Auseinandersetzung mit einem normativen, aber zugleich auch die Gesellschaft und Kultur prägenden Text“.
Gespräche am Nachmittag
In drei Podiumsdiskussionen am Nachmittag haben sich Verfassungsexperten und -expertinnen drei verschiedenen Artikeln des Grundgesetzes (GG) angenähert, ihre Geschichte beschrieben und Herausforderungen für Gegenwart und Zukunft benannt. Moderiert wurde dieser Veranstaltungsteil von Gigi Deppe aus der ARD-Rechtsredaktion des SWR in Karlsruhe.

Artikel 20a und der Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichts
Das erste Gespräch widmete sich Artikel 20a GG und dem Klimabeschluss des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) aus dem Jahr 2021. Ob der von vielen Klimagruppen bejubelte Beschluss wirklich Wirkung entfaltet hat und auf welchen gesetzlichen Bestimmungen er fußt, darüber unterhielten sich Prof.in Dr. Barbara Remmert (Universität Tübingen) und Prof. Dr. Mathias Hong (Hochschule Kehl; als Ersatz für Dr. Frank Bräutigam).
Vor 75 Jahren gab es den Artikel 20a noch nicht und auch das Wort Klima spielte für den Parlamentarischen Rat keine Rolle, wie Barbara Remmert berichtete. Allerdings gab es bereits Artikel 2 GG, das Recht auf Leben und Unversehrtheit. Erst 1994 wurde der Artikel 20a und damit der Schutz der Lebensgrundlagen eingeführt. Bis dahin stand insbesondere der Schutz des Menschen im Vordergrund der Verfassung. Was nicht heißt, dass Artikel 20a als Grundrecht seitdem schwerer wiegt als andere Grund- und vor allem Freiheitsrechte in der Verfassung. Die Umsetzung des Artikels obliegt dem Gesetzgeber, der spätestens seit dem Klimabeschluss aus dem Jahr 2021 verpflichtet ist, Vorkehrungen zu treffen, die die Umwelt schützen und eine weitere Erderwärmung bremsen. Das BVerfG ist hingegen zuständig, die Gesetze und ihre Umsetzung in Bezug auf das Grundgesetz zu prüfen. 2021 wurde zwar ein Verstoß seitens des Gesetzgebers festgestellt, aber nicht gegen Artikel 20a, sondern eine Verletzung des Grundrechts auf „intertemporale Freiheit“.
Was es mit diesem Grundrecht auf intertemporale Freiheit auf sich hat, erläuterte Mathias Hong: Es stehe so nicht in der Verfassung, sondern sei vom BVerfG in einer neuen Auslegung von Artikel 20a gefunden worden. Es verpflichte den Staat mit jetzigem politischem Handeln keine absehbaren und vermeidbaren Verstöße gegen Grund- und Freiheitsrechte in der Zukunft zu erzeugen. Mit der Klimagesetzgebung von 2021 war ein solcher Verstoß aus Sicht des BVerfG aber gegeben. Das Besondere an diesem Urteil ist laut Mathias Hong die politische Reaktion. Die Laufzeit klimaschützender Gesetze wurde verlängert, die Laufzeiten der CO2-Ziele wurden reduziert und eine CO2-Neutralität bis 2045 festgeschrieben. Der Beschluss habe sich auf die Politik ausgewirkt und in sehr kurzer Zeit habe diese reagiert. Dem Argument, das BVerfG habe hier seine Befugnisse überschritten, entgegnete Mathias Hong: Die Grundrechte wurden vor 75 Jahren absichtlich weit gefasst, sodass die Verfassung in Zukunft flexibel sein müsse und von Staat, Gesellschaft und Gerichten interpretiert, geformt und mit Leben gefüllt werden könne.
Im Verlauf des Gesprächs fragte Gigi Deppe, warum intertemporale Freiheit erst seit 2021 ein Grundrecht sei. Barbara Remmert erklärte, dass es schon immer Problemfragen gab auf die meistens der Gesetzgeber als demokratisch legitimierte Instanz (da vom Volk gewählt) reagieren konnte. Die Klimakrise jedoch sei kein Problem, das sich in ein oder zwei Legislaturperioden lösen lasse, sondern auch darüber hinaus in der Zukunft eine große Rolle spielen werde. Deshalb seien jetzige Gesetzgeber in einer besonderen Verantwortung ihre Entscheidungen auf einen langen Zeitraum auszulegen. Diese außergewöhnliche Situation gab es so seit 1949 noch nicht und somit auch keine Notwendigkeit für das Recht auf intertemporale Freiheit. Noch dazu seien die Klimakrise und ihre Auswirkungen wissenschaftlich sehr gut erforscht und es gebe klare Handlungsvorschläge und damit auch Reaktionsmöglichkeiten für die Legislative.
Thema war auch die im April 2024 erfolgreiche Klage von Schweizer Seniorinnen und Senioren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR). Die Ergebnisse beider Klagen seien zwar sehr ähnlich, dennoch würden die beiden Gerichte recht unterschiedlich funktionieren. Das Urteil des EGMR richte sich auf die Einhaltung der Schutzpflicht der Schweiz gegenüber ihren Bürgerinnen und Bürgern, somit seien die Erfolgschancen einer Klage für alte Menschen höher, denn sie leiden eher körperlich an den Auswirkungen der Klimakrise als Jüngere. Der Beschluss in Karlsruhe fokussierte sich dahingegen auf die Zukunftsrechte der jungen Generation, die intertemporale Freiheit: Hier lohne es sich für junge Menschen so gesehen mehr zu klagen. Es geht um den Schutz der Lebensgrundlage der Menschen in der Zukunft und damit auch um die Umwelt. Nichtsdestotrotz sei die Verfassung auf den Menschen ausgerichtet und sie mache nicht etwa spezifische Ökosysteme oder Tiere zu Grundrechtsträgern. Das wiederum wäre auch eine politische Entscheidung und keine für das BVerfG.
Darüber hinaus kam die Frage auf, ob die Demokratie der Klimakrise überhaupt gewachsen sei. Beide Gesprächspartner waren sich einig, dass die Demokratie als einzige Staatsform einen gerechten Umgang mit diesen Herausforderungen ermögliche und somit alternativlos sei. Dass sie schnell handeln könne, habe sich auch während der Covid-Pandemie gezeigt. Selbst wenn der politische Wille in der Bevölkerung fehle, wie ein Fragesteller aus dem Publikum mit Verweis auf das Gebäudeenergiegesetz bemerkte, müssten Gerichte weiterhin den Gesetzgeber prüfen. Ansonsten komme es bei einer Zuspitzung der Erderwärmung in Zukunft sowieso zu noch viel mehr Klagen und Urteilen. Barbara Remmert verwies auf Nachfrage noch einmal darauf, dass es für das BVerfG immer ein Abwägen zwischen dem Respekt vor den Kompetenzen des Gesetzgebers und der Kontrolle seiner Handlungen sei. Bis jetzt bewerte sie das BVerfG bei Beschlüssen zum Klimawandel aber eher als zurückhaltend. Das höchste deutsche Gericht habe ihrer Meinung nach seine Machtbefugnisse nicht überschritten. Wie sich die Klimagesetzgebung im Angesicht jüngster Urteile entwickeln werde, bleibe aber abzuwarten.
Artikel 3 und das Diskriminierungsverbot
In der folgenden Diskussionsrunde ging es um Artikel 3 GG, das Diskriminierungsverbot, dessen Auslegung und um den Unterschied zwischen Verfassungsidealen und der Zeit, aus der sie stammen. Gigi Deppe berichtete von ihrer Tochter und deren Freunden, stellvertretend für eine junge Generation, für die Diversität und Antidiskriminierung wichtige Themen sind, viel relevanter noch als vor einigen Jahren. Um diesen Artikel 3 GG und seine Rolle zu diskutieren, sprach Gigi Deppe auf dem Podium mit Professorin Dr. Judith Froese (Universität Konstanz) und Prof. Dr. Mathias Hong (Hochschule Kehl).
Mathias Hong begann mit einem Rückblick: Die Grundrechte in Artikel 3, aber auch in den anderen Artikeln der Verfassung, seien als dynamische Grundrechte konzipiert worden. Das heißt, dass sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes darüber im Klaren waren, dass diese Grundrechte an gesellschaftliche Veränderungen angepasst werden müssten. Insbesondere in Artikel 3 wurde 1949 ein Versprechen abgegeben, das keineswegs der Realität der Zeit entsprach und dessen Prinzipien von Gleichstellung und Antidiskriminierung sogleich wieder „verraten“ wurden. So sind etwa Hermann von Mangold, Vorsitzender des Ausschusses für Grundsatzfragen im Parlamentarischen Rat, Begriffe wie „Zigeuner“ oder „nordische Rasse“ zuzuschreiben. Aber auch heute gibt es noch viele Beispiele, die gegen Artikel 3 GG verstoßen: Bekommen etwa zwei Frauen ein Kind, können rechtlich nicht beide als Mütter anerkannt werden; die soziale Ungleichheit in Deutschland; die strukturelle, nach wie vor vorhandene Benachteiligung von Frauen. Es hat sich zwar viel verändert und viel verbessert seit 1949, Diskriminierung gibt es aber immer noch. Heute ist sie meistens struktureller Natur.

Insbesondere Absatz 3 des Artikels 3 GG sei Gegenentwurf zur Ideologie des Nationalsozialismus. Er schließe nicht nur Benachteiligung aus, sondern verhindere auch Bevorzugung auf Grund eines der genannten Merkmale, erklärte Judith Froese. Aktuell seien eindeutige Benachteiligung oder indirekte Diskriminierung von Merkmalsträgerinnen oder -trägern weniger im Fokus, etwa Menschen eines Geschlechts, die vor allem in niedrig bezahlten Berufen arbeiten. Wie auch von Mathias Hong schon beschrieben, versuche man heute vor allem gegen verfestigte, diskriminierende Zustände und Strukturen vorzugehen. Als Beispiel wurden Prüfungskommissionen für mündliche Prüfungen aus einem Versuch angeführt, die, wenn nur männlich besetzt, weibliche Prüflinge durchschnittlich schlechter bewerteten als wenn auch Frauen in der Kommission saßen. Müsste man solche Kommissionen also diverser besetzen? Welche Rolle spielt Artikel 3 GG für das Privatleben? Als im sog. „Ugah-Ugah-Fall“ ein Mann seinen schwarzen Kollegen wiederholte Male rassistisch imitierte, wurde er auf Basis von Artikel 3 GG entlassen. Die rassistische Verletzung der Grund- und Freiheitsrechte des Arbeitskollegen wurde durch seine Meinungsfreiheit nicht geschützt.
Auf die Frage hin, was er in Artikel 3 Absatz 3 GG ergänzen oder streichen würde, verwies Mathias Hong zuerst einmal darauf, dass der Satz, der Benachteiligung von Behinderungen verbietet, auch nachträglich eingefügt worden sei. Er selbst würde eventuell noch sexuelle Orientierung hinzufügen und das Wort „Rasse“ mit Anführungszeichen oder einem „sogenannte“ davor schreiben. Anderseits decke Art. 3 Abs. 1 GG alles ab, was in Art. 3 Abs. 3 GG fehle.
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Judith Froese beschrieb im Folgenden die auch politisch geführte Kontroverse um den Rassebegriff: Er erinnere daran, dass es im Nationalsozialismus eine Unterteilung in Rassen gegeben hat. Es sei außerdem schwierig, einen adäquaten Ersatz für den Begriff zu finden, der nicht verharmlosend wirke oder das Schutzrecht der betroffenen Gruppe herabsetze, auch wenn die Gefahr bestehe, dass der Absatz so gelesen werde, als gehe das GG davon aus, dass es Rassen gäbe. Die Diskriminierung auf Grund von imaginären Rasseeigenschaften existiere ja nach wie vor. Froese argumentierte auch, der Begriff „Rasse“ stünde selbst nach einer Streichung im Grundgesetz weiterhin im EU- und Völkerrecht. Außerdem würde die Formulierung „rassistisch“ die Auslegung des Art. 3 Abs. 3 GG in der Praxis verändern, befand Mathias Hong.
Doch nicht nur der Blick auf den Begriff „Rasse“ hat sich seit 1949 verändert. Auch sonst hat sich in der Rezeption der Verfassung viel getan. Der 1994 hinzugefügte Satz über das Diskriminierungsverbot von Menschen mit Behinderung wiederum hat nicht nur eine Diskussion über Barrierefreiheit im Alltag ausgelöst, sondern betont auch die Förderung der Autonomie von Menschen mit Behinderung. So reichte ein blinder Mann Klage vor dem BVerfG ein, als ihm mit seinem Blindenhund der Zugang zu einer Arztpraxis verwehrt wurde, in der keine Tiere erlaubt waren. Dem Mann wurde in einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2020 Recht gegeben. Es muss für Menschen mit Behinderung möglich sein, so autonom wie möglich ihren Alltag zu bestreiten.
Wie die Ergänzung zum Diskriminierungsverbot von Behinderungen, wurde 1994 noch ein Zusatz zu Art. 3 Abs. 2 GG hinzugefügt: Über die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Mann und Frau und über die Beseitigung der Benachteiligung der Frau. Schon der Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ war 1949 keine Selbstverständlichkeit. In den ersten Abstimmungen über diesen Artikel waren die männlichen Mitglieder des Parlamentarischen Rates (es gab nur vier weibliche Mitglieder) gegen diesen Satz. Auch der Gleichberechtigung widersprüchlich war die Strafverfolgung von Homosexuellen nach §175 StGB. Sie wurden mit der Einführung des Sittengesetzes von Art. 3 GG ausgenommen und an der Wahrnehmung ihrer Grundrechte gehindert. Diese Beispiele zeigen die Diskrepanz zwischen dem Ideal der Verfassung und der Realität, in der sie interpretiert wird. Aber auch die Dynamik und Flexibilität der Artikel zeigt sich. Den Mitgliedern des Parlamentarischen Rates müsste klar gewesen sein, dass sich Sitten und damit der Umgang mit Homosexualität ändern können.
Ein weiterer Bereich der strukturellen Diskriminierung, der durch seinen repräsentativen Auftrag besonders viele Menschen betrifft, ist das Geschlechterverhältnis in den Parlamenten und insbesondere in den Landesparlamenten der Bundesrepublik: Der Großteil der Abgeordneten sind hier Männer. Das liege viel an Partei- und Organisationsstrukturen. Judith Froese entgegnete, Abgeordnete seien Gesamtrepräsentanten, sie würden unabhängig von ihren persönlichen Merkmalen die Menschen, die sie gewählt haben, repräsentieren. Mathias Hong führte an, dass mehr Diversität in den Parlamenten trotz des Ansatzes der Gesamtrepräsentation vorteilhaft wäre, um möglichst unterschiedliche Perspektiven abzubilden. Die Umsetzung sei bei einem frei gewählten Parlament jedoch schwierig, da man nicht mittels Quoten in die Entscheidungen der Wählerinnen und Wähler eingreifen dürfe. Ein Fragesteller aus dem Publikum warf ein: Das Argument der Gesamtrepräsentation würde nur mäßig gelten, da auch Abgeordnete immer aus ihrem persönlichen Blickwinkel Politik machen würden und die Fragen, die sie stellen, an ihren eigenen Erfahrungswerten messen würden. Eine Möglichkeit der Diversifizierung wäre, wenn sich die Parteien selbst verpflichten würden, diskriminierende Strukturen abzubauen und diversere Kandidierende aufzustellen.
Die Interpretierbarkeit des Artikel 3 GG wurde dann in weiteren Fragen sichtbar: Wie weit reiche etwa der Begriff „Niemand“, schließt er auch „ungeborenes“ Leben ein? Laut Mathias Hong sei die Rechtslage hier kompliziert und es gäbe einen Kompromiss dazu. Embryonen werden Kindern nicht gleichgesetzt und Abtreibung ist im Falle von Vergewaltigungen oder bei Lebensgefahr straffrei möglich, bleibt aber an sich rechtswidrig. Die Frage sei, ob die Rechtswidrigkeit wirklich erreicht, worauf sie abziele, oder ob man sie nicht stattdessen durch eine Beratungslösung ersetzen solle.
Eine weitere Frage war, ob die rechtliche Anerkennung von mehr als zwei Geschlechtern 2017 Auswirkungen auf Abs. 2 von Art. 3 GG habe, die Gleichstellung von Mann und Frau. Da es sich hier um geschlechtliche Varianten handle, würden diese unter dem Diskriminierungsverbot des Geschlechts in Art. 3 Abs. 3 GG miterwähnt. Art. 3 Abs. 2 GG wiederum beziehe sich spezifisch auf Mann und Frau. Eine Öffnung der Debatte sei aber auch hier denkbar
Artikel 6 und Familie in der diversen Gesellschaft heute
In der letzten Podiumsdiskussion ging es um „ein Thema, das irgendwie alle betrifft, das Thema Familie. Denn selbst bei denjenigen, die keine Familie haben oder keinen Wert auf Familie legen […], gibt es (biologisch) mindestens eine Mutter oder einen Vater“. So eröffnete Gigi Deppe das Gespräch mit Professorin Dr. Sabine Walper (Deutsches Jugendinstitut München) und Bundesverfassungsrichter Prof. Dr. Henning Radtke (Karlsruhe) über Art. 6 GG, der Ehe, Familie und Kindeserziehung genauer definiert.

Anhand dieses Artikels sei gut zu erkennen, was prägend für das gesamte GG ist, erklärte Henning Radtke. 1949 habe es ein klares Verständnis von Familie gegeben: ein Mann und eine Frau, verheiratet und mit Kindern. Dieses Bild habe zwar schon damals nicht die Realität abgebildet (viele alleinerziehende Witwen in der Nachkriegszeit), aber es sei doch das „Familienleitbild“ des Parlamentarischen Rates gewesen. Bis heute haben sich jedoch nicht nur die Ideale geändert, sondern vor allem die gesellschaftlichen Umstände, in denen die Verfassung existiert. Doch auch heute noch sei die Familie eine Institution, die besonderen Schutz genieße, auch vor staatlichen Eingriffen. Die Diversifizierung dessen, was Familie heute ist, erschwere es, diesen Schutz zu gewährleisten, da viele Familienkonzepte heute nicht mehr zu dem Familienbegriff von vor 75 Jahren passen und so nicht unter den besonderen Schutz des GG fallen.
Sabine Walper beschrieb diese historischen zwischen heute und damals anschließend kurz in Zahlen: Vor 75 Jahren sei die Heiratsrate doppelt so hoch gewesen. Auch die Zustimmung zu Ehe oder einer Eheschließung nach der Geburt des ersten Kindes hätten deutlich abgenommen. So würden sich auch die Gründe für eine Eheschließung wandeln. Ehe sei heute weniger relevant als Rahmenkonstrukt für Familien. Die Zahl der Alleinerziehenden und nicht verheirateten Eltern sei in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Auch vor 75 Jahren gänzlich undenkbare Konstrukte würden immer häufiger gelebt, wie etwa das „Co-Parenting“: Menschen mit Kinderwunsch würden sich zusammentun, z. B. ein schwules und ein lesbisches Paar, und bekämen zusammen Kinder ohne eine Beziehung einzugehen oder verpartnert zu sein. Was rechtliche Veränderung angehe, habe sich vor allem für die Grundrechte unehelicher Kinder viel getan, nachdem sie in der Gründungszeit der Bundesrepublik geradezu diskriminiert wurden.

Im Folgenden gab Henning Radtke Einblicke in aktuelle Fragen, die den zweiten Senat des BVerfG derzeit beschäftigen: Kann ein Mann, der leiblicher Vater eines Kindes ist, rechtlicher Vater des Kindes werden und volles Sorgerecht erlangen, wenn es schon einen anderen rechtlichen Vater gibt? Bisher gibt es die Vaterschaftsanfechtung: Fechtet hier der leibliche Vater erfolgreich den Status des rechtlichen Vaters an, verliert dieser seinen Status und der leibliche Vater wird rechtlicher Vater und kann das Sorgerecht erhalten. Bis jetzt war diese Anfechtung zwar möglich, war der rechtliche Vater aber in einer engen familiären Beziehung mit dem Kind, waren diese Anfechtungen bisher immer erfolglos. Nun entschied aber das BVerfG, dass nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG das Grundrecht auf Erziehung grundsätzlich für drei Personengruppen gelten solle: die leibliche Mutter, den leiblichen Vater und einen rechtlichen Vater. Wobei Sabine Walper anmerkte, dass die Aufteilung des Sorgerechts gerade nur auf zwei Personen möglich und die Umsetzung der Entscheidung damit schwierig sei. Außerdem schließt die Entscheidung Samenspender noch nicht ein. Das beinhalte womöglich Gesetzesänderungen, die wiederum dem Gesetzgeber obliegen. Henning Radtke betonte hier, was für eine Errungenschaft eben diese Gewaltenteilung sei. Die Entscheidungsgewalt liege beim Gesetzgeber, da die Parlamente wählbar seien und der Bevölkerung so direkt Rechenschaft schuldig sind. Die Verfassungsrichterinnen und -richter hingegen seien auf zwölf Jahre ernannt und nicht im selben Maße Rechenschaft gegenüber der Bevölkerung schuldig. Ihre Aufgabe sei es lediglich, den Gesetzgeber anhand des GG zu überprüfen und zu kontrollieren.
Beispiele für die oben erwähnte Mehrelternschaft sind zum einen die Stiefelternschaft, die es schon lange gibt. Hier ist die Aufteilung des Sorgerechts auf mehr als zwei Personen noch nicht möglich. Zum anderen gibt es – wie schon erwähnt – gleichgeschlechtliche Paare, die etwa zu viert ein Kind bekommen. Eine Debatte über die Ausweitung des Sorgerechts ist auch relevant für Pflegefamilien. Lebt ein Pflegekind bei einer Pflegefamilie, liegt das Sorgerecht hierzulande oft trotzdem bei den leiblichen Eltern. Und im Vergleich zu anderen Ländern werden nur wenige Pflegekinder zur Adoption freigegeben. Dieses Modell erleichtert leiblichen Eltern oft die Entscheidung, ihr Kind an eine fremde Familie abzugeben. Allerdings bleibt so eine rechtliche Unsicherheit über den Verbleib des Kindes für Pflegeeltern und insbesondere für das Pflegekind selbst. Alternativ wäre ein Modell der Mitelternschaft für Pflegeeltern möglich. Generell sollten Gesetzgeber und Rechtsprechung die gesellschaftlichen Entwicklungen bezüglich Familien auffangen und adaptieren, befand Sabine Walper.
Artikel 6 GG regelt nicht nur die Rechte der Ehegatten oder Eltern in einer Familie, sondern berücksichtigt ebenfalls die Interessen der Kinder: Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG ist nicht bloß das Grundrecht der Eltern auf Erziehung, er erklärt die Erziehung auch zu der „zuvörderst ihnen [den Eltern] obliegenden Pflicht“. Aus dieser Pflicht leitete das BVerfG ab, dass das Erziehungsrecht der Eltern in erster Linie immer auf das Kindeswohl ausgerichtet sein muss. Eine Impfung etwa ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit des Kindes und die Entscheidung darüber liegt bei den Eltern im Rahmen ihres Sorgerechtes. Wie kann der Gesetzgeber jetzt also eine Impfpflicht gegen Masern zum Beispiel für Kita-Kinder erlassen, wie sie das 2020 verabschiedete Masernschutzgesetz vorsieht? Diese Impfung ist nachweislich gesundheitsschützend und im Falle einer Infektion potenziell lebensrettend für Kinder und damit im Interesse des Kindeswohls. In diesem Falle kann der Gesetzgeber im Interesse des Kindeswohls Gesetze erlassen, die einen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten und die mit der Erziehungskompetenz der Eltern kollidieren. Denn die Eltern müssen ihre sorgerechtlichen Entscheidungen immer auf das Kindeswohl ausrichten.
Die Rechte von Kindern würden sogar noch weiterreichen, erklärte Henning Radtke. Wenn leibliche Eltern eines Pflegekindes vor einem Familiengericht ihr Erziehungsrecht geltend machen und fordern, dass ihr Kind aus der Pflegefamilie zu ihnen zurückkehrt, würden Gerichte nach ein paar Jahren und wenn keine Kindeswohlgefährdung mehr erkennbar ist, oft stattgeben. Auch wenn das Kind der Meinung ist, die leiblichen Eltern würden ihren Erziehungspflichten nicht nachkommen. In diesem Fall könne das Kind die Entscheidung vor dem BVerfG anfechten. Kinder bekämen dann einen Verfahrensbeistand an die Seite gestellt, der sie vor Gericht vertritt. Henning Radtke berichtete von vier solchen Fällen in den letzten Jahren. In zwei dieser Fälle seien die Urteile der Familiengerichte revidiert worden.
Für eine an den gesellschaftlichen Wandel angepasste Familienrechtsprechung konnte sich Sabine Walper folgende Impulse vorstellen: Kinderwunsch als Bedingung für rechtliche Elternschaft, denn Kindeserziehung werde immer anspruchsvoller und zeitintensiver. Mehr denn je würden Eltern heute Zeit für ihre Kinder verwenden und seien zugleich immer überforderter bei der Kindeserziehung. Auch sei die Ehe nicht mehr die einzige schutzbedürftige Institution. Man müsse Alternativen berücksichtigen, wie z. B. Alleinerziehende, die in Ostdeutschland einen noch größeren Anteil der Bevölkerung ausmachen als im Westen. Um unzeitgemäßen Ungleichgewichten entgegenzuwirken, könne man das Ehegattensplitting abschaffen und rechtlich mehr für die Einkommens- und Rentensicherung von Frauen tun. Es würden schließlich nicht nur weniger Menschen als früher heiraten, es gebe auch mehr Trennungen.
Henning Radtke sah die Schwierigkeiten mit Art. 6 Abs. 1 GG, den Schutz der Ehe und der Ehegatten in der Ehe, vor allem in der Zeit begründet, aus der dieser Artikel stammt. Er sei verknüpft mit den Idealen und Vorstellungen der Mitglieder des Parlamentarischen Rates und ihrer Zeit. Heute müsse man sich allerdings die Frage stellen, ob die Stabilität, die man der Ehe vor 75 Jahren zuschrieb, exklusiv nur für dieses Bündnis vorhanden sei. Würde man alternative Formen der Partnerschaft als ähnlich stabil befinden, könnte man diesen exklusiven Schutz ausweiten oder gar aufheben.
Was die Co-Mutterschaft (zwei Frauen als rechtliche Mütter) angeht, befand Henning Radtke, dies sei eher eine Entscheidung für den Gesetzgeber und nicht für das BVerfG. Bis jetzt ist es für zwei Frauen ohne Adoption nicht möglich, dass beide als rechtliche Mütter anerkannt werden.
In einer Publikumsfrage kam noch das Thema Wahlrecht auf: Angesichts des fortschreitenden demographischen Wandels würden die Stimmen junger Menschen bei Wahlen in Zukunft weniger ins Gewicht fallen als die der älteren Generationen. Zum Vorschlag des Elternwahlrechtes (Eltern bekämen eine zusätzliche Stimme für jedes Kind, das sie haben) erwog Susanne Walper sogar ein Wahlrecht ab Geburt als Möglichkeit. Hier würden die Eltern das Wahlrecht des Kindes treuhänderisch bis zum rechtlich festgeschriebenen vollen Wahlalter verwalten. Schließlich sei Wählen Bürgerrecht und dürfe Kinder nicht ausschließen. Henning Radtke verwies noch auf die Brisanz dieser Entscheidung, da die Wahl das zentrale Instrument der parlamentarischen Demokratie sei, auch wenn es alternative Instrumente zur politischen Willensbildung gebe, etwa im zivilgesellschaftlichen Bereich. Bei allen seinen Entscheidungen arbeite das BVerfG eng mit der Rechtswissenschaft zusammen und auch hier bleibe die zukünftige Entwicklung abzuwarten. Der demographische Wandel verstärke die Dringlichkeit der Frage zusehends.
Konzert und Lesung mit dem Bläserensemble OPUS 45 und Roman Knižka
Kein Jubiläum ohne feierlichen Abschluss: Nach Stunden des verfassungsrechtlichen Diskutierens ließ man den Abend mit einer künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz ausklingen. Mit „Die Würde des Menschen ist unantastbar …“ betitelten Opus 45 und Roman Knižka Konzert und Lesung über 75 Jahre Grundgesetz. Gruß- und Dankesworte sprachen Muhterem Aras, die Präsidentin des Landtags von Baden-Württemberg und Isabel Fezer, die Bürgermeisterin der Stadt Stuttgart für Jugend und Bildung. Muhterem Aras machte ihre Eröffnungsrede zu einer Liebeserklärung an die Verfassung, vergaß dabei aber nicht die Herausforderungen in 75 Jahren Grundgesetz. Sie endete mit dem Aufruf, das Grundgesetz auch in Zukunft zu schützen gegen völkische und extremistische Hetze, die eine Bedrohung für die Demokratie und ihre Verfassung darstelle.
In der anschließenden Aufführung nahmen Roman Knižka und das Bläserquintett OPUS 45 das Grundgesetz von seiner Entstehung bis heute unter die Lupe. Was ist sein Fundament, welches Erbe trat es an? Welche Bedeutung hat dieses Fundament für uns heute? Zu Gehör gebracht wurden literarische, philosophische und humoristische Texte unter anderem von Susanne Baer, Max Czollek, Herta Müller, Heribert Prantl, Lucy Wagner sowie Sitzungsprotokolle des Parlamentarischen Rats, Briefe, Telegramme und Zeitungsartikel. Die Musik für Bläserquintett, mal korrespondierend, mal kontrapunktisch zur Lesung, stammte u. a. von Johann Sebastian Bach, Ludwig van Beethoven, Paul Taffanel, August Klughardt, Maurice Ravel und Henri Tomasi.


Autor: Internetredaktion LpB BW | letzte Aktualisierung: Mai 2024