Januar 2020
Shirley Chisholm (1924 - 2005)
Erste afroamerikanische Parlamentarierin in den USA und Kämpferin für Frauen- und Menschenrechte
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Shirley Chisholm war insbesondere in den 1960er bis in die 1980er Jahre in der US-amerikanischen Politik aktiv und kämpfte unermüdlich für die Rechte von Frauen und Blacks and Persons of Color, also Menschen, die von Rassismus betroffen sind. Zu jener Zeit dominierten weiße Männer die Gesellschaft und Politik in hohem Maße. Aber auch heute hat Chisholms Einsatz für diskriminierte Gruppen nicht an Relevanz verloren, da Frauen wie auch Blacks and Persons of Color (BPoCs) gerade unter der derzeitigen US-Präsidentschaft in Politik und Gesellschaft benachteiligt werden. Insbesondere schwarze Frauen, diskriminiert aufgrund von Hautfarbe und Geschlecht, befinden sich nach wie vor häufig am Ende der US-amerikanischen Hierarchie und zählen zu den marginalisierten Gruppen.
Shirley Chisholm versuchte fast ihr ganzes Leben lang, Schwarze (und vor allem schwarze Frauen) zur gesellschaftlichen Teilhabe zu ermutigen und dafür zu stärken. Ein viel zitierter Satz von ihr dazu:
“If they don’t give you a seat at the table, bring a folding chair” ( „Wenn sie dir keinen Platz am Tisch geben, dann nimm dir einen Klappstuhl mit.“) |
Shirley Chisholms Todestag jährt sich im Januar 2020 zum 35. Mal. Die Erinnerung an sie wachzuhalten, ist aktueller denn je.
Kindheit, Jugend und Studium
Shirley Anita St. Hill Chisholm wird am 30. November 1924 als Tochter eines Fabrikarbeiters und einer Näherin in Brooklyn, New York geboren. Aufgrund von finanziellen Problemen ihrer Eltern wächst sie ab dem dritten Lebensjahr bei ihrer Großmutter im karibischen Inselstaat Barbados auf.
Von ihrer Großmutter lernt die junge Shirley sowohl Selbstbewusstsein als auch Selbstwertschätzung. Im Alter von zehn Jahren kehrt Shirley nach New York zurück, um die High-School zu besuchen, die sie 1942 mit dem Abschluss verlässt.
Die Rückkehr in die USA hinterlässt Spuren: In ihrer alten Heimat New York begegnen Shirley Diskriminierung und Rassismus: Diskriminierung aufgrund ihres weiblichen Geschlechts und Rassismus aufgrund ihrer Hautfarbe. Diese doppelte Benachteiligung wie auch die gesellschaftlichen Probleme in der Großstadt sind entscheidend für Shirleys späteres politisches Engagement.
Shirley St. Hills Wunsch, nach dem Schulabschluss zu studieren, scheitert zunächst an der finanziellen Situation ihrer Familie: Trotz Stipendienangeboten ist es Shirley nicht möglich, auf ein weiter entferntes renommiertes College zu gehen. Sie besucht deshalb das in ihrer Nähe gelegene, studiengebührenfreie Brooklyn College, um Lehrerin zu werden. Während ihres Bachelor-Studiums gewinnt sie mehrere Preise für ihre Argumentationsfähigkeit.
Nach dem College-Abschluss findet Shirley St. Hill zunächst keine Anstellung und wird Assistenz einer Lehrkraft. Neben dieser Arbeit lernt sie nachts für ihren Masterabschluss in Früh-kindlicher Erziehung an der New Yorker Columbia University.
1949 heiratet Shirley den Privatdetektiv Conrad Chisholm. Zwei Jahre später schließt sie ihr Master-Studium ab und erhält eine Stelle als Leiterin eines privaten Kindergartens in Brooklyn. 1952 wird sie Direktorin einer Kinderbetreuungseinrichtung in Manhattan.
Politisches Engagement und politische Karriere
Während des Studiums war Shirleys Interesse an der Politik gewachsen. Zunehmend engagiert sie sich in der Demokratischen Partei und tritt dem „Seventeenth Assembly District Democratic Club“ in Brooklyn bei. Von Beginn ihrer politischen Karriere an kämpft sie unermüdlich dafür, die Stimmen von Frauen und Minderheiten stärker in den politischen Diskurs zu bringen, der damals noch wesentlich stärker als heute von weißen Männern dominiert wird. Geprägt von ihrer sozio-ökonomischen Herkunft kommt Shirley Chisholm zu dieser Überzeugung:
„Anti-schwarz und anti-weiblich und alle Formen von Diskriminierung sind letztlich gleichbedeutend mit einer Sache: Anti-Menschlichkeit.“ “ |
1954 gründet Shirley Chisholm zusammen mit dem Aktivisten Wesley McDonalds Holder die „Bedford-Stuyvesant Political League“. Diese Initiative hat die stärkere Repräsentation von Afroamerikaner*innen in der US-amerikanischen Politik zum Ziel. Trotz der erfolgreichen Arbeit der Initiative (mehr Angehörige von Minderheiten lassen sich für Wahlen registrieren und beteiligen sich an Wahlen) trennt sich das Team Chisholm/Holder aufgrund eines Konflikts.
Nach einer zweijährigen‚Politikpause wird Shirley Chisholm 1960 als Mitglied des reformorientierten „Unity Democratic Club“ wieder politisch aktiv. 1962 ist sie bereits Mitglied des Vereinsvorstands. Wiederum zwei Jahre später erlangt Shirley einen Sitz in der New York State Assembly, dem Landesparlament ihres Heimat-Bundesstaats.
Während ihrer Zeit als Abgeordnete bringt Shirley Chisholm unter anderem folgende Gesetzesinitiativen ein: Unterstützung für einkommensschwache Studierende, eine Arbeitslosenversicherung für Hausangestellte sowie einen Kündigungsschutz für Lehrerinnen während des Mutterschutzes.
1968 wird Shirley Chisholm zur „Democratic National Committeewoman“ des Bundesstaats New York gewählt. Im gleichen Jahr entscheidet sie sich gegen viele anderslautende Ratschläge, für das US-Repräsentantenhaus zu kandidieren. Mit dem Wahlspruch „Fighting Shirley Chisholm – Unbought and Unbossed“ (übersetzt: „Shirley Chisholm kämpft – Nicht gekauft und nicht beherrscht“) gewinnt sie nach einem hartumkämpften Rennen mit der Unterstützung ihres früheren Mitstreiters Wesley Holder und des Unity Clubs als erste afroamerikanische Frau einen Sitz im US-Parlament. Dort vertritt sie von 1969 bis 1983 den 12. Distrikt (Bedford-Stuyvesant)des Bundesstaats New York.
Allerdings gerät Shirley Chisholm schnell in Konflikt mit dem überkommenen System des Repräsentantenhauses: Sie wird in den Landwirtschaftsausschuss und den Ausschuss für „Veterans‘ Affairs“ (Angelegenheiten der US-Kriegsveteranen) entsendet, wo sie nur wenig für ihre Wähler*innen tun kann. Dennoch macht sich die Abgeordnete Chisholm als starke Persönlichkeit einen Namen und wird 1970 wiedergewählt. In ihrer zweiten Periode als Parlamentarierin erlangt sie einen Sitz im Bildungs- und Arbeitsausschuss. Ein Jahr später gründet sie den parlamentarischen „Black Caucus“, den Ausschuss für die Angelegenheiten schwarzer Menschen. Neben der Unterstützung von Frauen und Minderheiten engagiert sich Shirley Chisholm hier auch für ein Ende des Vietnam-Krieges sowie für strengere Waffenkontrollgesetze. Ihr Einsatz gilt zudem den Bürgerrechten und der Verbesserung der Lebenssituation einkommensschwacher Menschen.
Mit ihrem Sitz im US-Repräsentantenhaus hat Shirley Chisholm als eine der wenigen Frauen ihrer Zeit in den USA direkten politischen Einfluss. Immer wieder fordert sie in ihren Reden die Gleichstellung von Männern und Frauen:
„Frauen müssen in diesem Land zu Revolutionärinnen werden.“ |
Shirley Chisholm beschäftigt nur weibliche Mitarbeiterinnen, die Hälfte von ihnen Nicht-Weiße — auch das ein Novum in der Geschichte des US-Parlaments. Nicht zuletzt zählt sie zu den Gründerinnen der „National Organization for Women“ (NOW).
1972 entscheidet sich Shirley Chisholm — wiederum gegen viele Widerstände — ins Rennen um das höchste Amt der USA zu gehen:
Als zweite Frau in der US-amerikanischen Geschichte will sie als Kandidatin der Demokratischen Partei für die Präsidentschaftswahlen antreten. Genau 100 Jahre nachdem mit Victoria Woodhull erstmals eine Frau das höchste Amt in den USA anstrebte, tritt Shirley Chisholm in diese Fußstapfen — als erste Afroamerikanerin. Obwohl ihr bewusst ist, wie gering ihre Chancen auf eine Nominierung zur Präsidentschaftskandidatur sind, kämpft sie engagiert. Ihr Ziel ist, Frauen und Minderheiten Gehör zu verschaffen und zu zeigen, dass es auch Afroamerikaner*innen zusteht, in den oberen Etagen der US-Politik mitzumischen.
"I am a candidate for the Presidency of the United States. I make that statement proudly, in the full knowledge that, as a black person and as a female person, I do not have a chance of actually gaining that office in this election year. I make that statement seriously, knowing that my candidacy itself can change the face and future of American politics—that it will be important to the needs and hopes of every one of you—even though, in the conventional sense, I will not win." |
In ihrer heute noch als Video überlieferten Erklärung, als Präsidentschaftskandidatin der demokratischen Partei antreten zu wollen, sagt Shirley Chisholm am 25.Januar 1972:
Erklärung als Präsidentschaftskandidatin
„Ich stehe heute vor euch als Anwärterin für die Nominierung als demokratische Präsidentschaftskandidatin. Ich bin nicht die Kandidatin des schwarzen Amerika, obwohl ich schwarz bin und stolz darauf. Ich bin nicht die Kandidatin der Frauenbewegung, obwohl ich eine Frau bin und genauso stolz darauf. Ich bin nicht die Kandidatin irgendwelcher politischer Herren oder Interessen. Ich bin die Kandidatin des Volkes.“
(Übersetzung: Leonie Wanner / YouTube: Shirley Chisholm: Declares Presidential Bid, January 25, 1972, Veröffentlicht: 13.04.2015, NYCDeptofRecords, www.youtube.com/watch?v=y3JCX3WxBik
Mit ihrer Kandidatur für die Nominierung zur Präsidentschaftskandidatin ist Shirley Chisholm offensichtlich ihrer Zeit voraus. Dass sie die innerparteilichen Wahlen verliert, liegt nicht zuletzt an finanziellen Problemen und am Fehlen einer professionellen Wahlkampf-Organisation. Ihre Unterstützer*innen im Kampf um die Präsidentschaftskandidatur sind nämlich Menschen mit wenig Kontakten zur institutionellen Politik und wenig Wissen über deren Abläufe: Studierende, Blacks and People of Color, Frauen und Jugendliche. Nichtsdestotrotz erzielt Shirley Chisholm fast 155.000 Stimmen (ca. 5 %) bei einem Wahlkampf-Budget von nur 300.000 US-Dollar. Sie unterliegt dem weißen männlichen Kandidaten der Demokratischen Partei, hat aber durch ihre Kandidatur in der Öffentlichkeit an Bekanntheit gewonnen. So wird sie erneut ins US-Repräsentantenhaus gewählt.
Während des Wahlkampfes wird Shirley Chisholm übrigens mehrmals bedroht und steht ab 1972 teilweise unter Personenschutz.
1970 und 1973 veröffentlicht Shirley Chisholm zwei autobiographische Bücher: „Unbought and Unbossed“ sowie „The Good Fight“ – beide liegen nur in der englischen Original-Version vor. Nach der Trennung von ihrem ersten Ehemann heiratet sie 1977 ein zweites Mal. Mit ihrem neuen Partner Arthur Hardwick Jr. hatte Shirley Chisholm bereits in der New York State Assembly zusammengearbeitet. Nach ihrem Rückzug aus der aktiven Politik im Jahr 1983 lehrt sie noch bis 1987 am Mount Holyoke College (Massachusetts) die Fächer Politik und Frauenforschung und ist als Vortragsreisende und Talk-Show-Gast vor allem für Menschenrechte und Menschenwürde aktiv. 1990 gründet sie gemeinsam mit 15 anderen schwarzen Frauen und Männern die Organisation „African-American Women for Reproductive Freedom“ („Afroamerikanische Frauen für reproduktive Freiheit“).
Aufgrund ihres Gesundheitszustandes lehnt Shirley Chisholm während der Präsidentschaft von Bill Clinton die Ernennung zur US-amerikanischen Botschafterin in Jamaika ab und verbringt ihre letzten Lebensjahre in Florida.
Am 1. Januar 2005 stirbt sie im Alter von 80 Jahren in Ormond Beach (Florida).
Wie an Shirley Chisholm (nicht) erinnert wird
Im deutschen Sprachraum sind Shirley Chisholm und ihre Verdienste bis heute weitgehend unbekannt. In den USA dagegen wird ihr mehr Platz in der Geschichte eingeräumt. Hier wird sie häufig als Vorbild für Frauen und Blacks and People of Color genannt. In den gesamten Vereinigten Staaten hat Shirley Chisholms Engagement das Leben von Menschen verändert. Dies gilt insbesondere für Frauen, Studierende und Schwarze, die während Chisholms Wahlkampf zum ersten Mal politisch aktiv geworden sind. Chisholms Aktivitäten haben das Bewusstsein für die Probleme dieser Gruppen erhöht. Sie hat sich aktiv für benachteiligte Gruppen eingesetzt und sich auch nicht durch kritische Stimmen bremsen lassen. Chisholm wollte stets als Frau in Erinnerung bleiben, die aufrichtig für einen Wandel in der Gesellschaft und für diskriminierte Gruppen kämpfte wie auch für Menschen, die keine Stimme haben. Und als erste schwarze Frau, die für eine der beiden großen US-amerikanischen Parteien Präsidentschaftskandidatin werden wollte.
Noch zu ihren Lebzeiten erhält Shirley Chisholm 1993 einen Platz in der „National Women’s Hall of Fame“. 2002 wird sie in das biographische Lexikon „100 Greatest African Americans“ aufgenommen. Kurz nach ihrem Tod läuft 2005 erstmals der Dokumentarfilm „Shirley Chisholm ’72: Unbought and Unbossed“ über die US-amerikanischen Bildschirme. Das „Shirley Chisholm Project on Brooklyn Women’s Activism” fördert Forschungsvorhaben und unterschiedliche Projekte für Frauen, um so das Erbe von Shirley Chisholm zu bewahren.
Im Jahr 2015 verleiht der damalige US-Präsidenten Barack Obama Shirley Chisholm postum die „Presidential Medal of Freedom”, die höchste zivile Auszeichnung der USA.
Seit 2019 erinnert in New York der „Shirley Chisholm State Park“ an sie.
Höchste Zeit, dass wir uns auch hierzulande an Shirley Chisholm als Aktivistin für Frauen- und Menschenrechte erinnern.
Autorinnen: Leonie Wanner, Beate Dörr / Aufbereitung für das Netz: Internetredaktion der LpB (Stand: Januar 2020) |
Literatur und Links
Literatur und Links:
- Chisholm, Shirley (1970): Unbought and Unbossed, Houghton Mifflin Company, Boston (Nicht online verfügbar)
- Edwards, Roanne (o.D): Chisholm, Shirley. In: Africana: The Encyclopedia of the African and African American Experience.
www.oxfordaasc.com
- Freeman, Jo (2005): Shirley Chisholm's 1972 Presidential Campaign.
www.jofreeman.com/polhistory/chisholm.htm
- Lach, Edward L. Jr. (2013): Chisholm, Shirley.
doi.org/10.1093/anb/9780198606697.article.0700831
- McClain, Paula D.; Carter, Niambi M.; Brady, Michael C. (2005): Gender and Black Presiden-tial Politics: From Chisholm to Moseley Braun.
doi:10.1300/J501v27n01_04
- Steinem, Gloria (1973): The ticket that might have been … President Chisholm.
www.sjsu.edu/people/maria.ochoa/courses/c1/s2/Chisholm_Steinem.pdf
- Taylor, Tim (1985): Shirley Chisholm. In: National Black Law Journal. Vol.9 (2).
https://escholarship.org/uc/item/2gj8p77s
- US-Botschaft und Konsulate in Deutschland: Frauen in der Politik: Eine Chronik.
de.usembassy.gov/de/frauen-in-der-politik-chronik
- Vogel, Caroline (2003): Shirley Chisholm.
www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/shirley-chisholm
- Vaidyanathan, Rajini (2016): Before Hillary Clinton, there was Shirley Chisholm.
www.bbc.com/news/magazine-35057641