„Weder Armen- noch Reichenghettos“
Rolf Gaßmann, Vorsitzender des Mietervereins Stuttgart, über den Zustand Stuttgarts in den Bereichen bezahlbarer Wohnraum, Gentrifizierung und das (Nicht-)Handeln der Stadt. Ein Interview geführt am 23.11.2017 von Jillian Freitag.
Wer sind hauptsächlich die Menschen, die Ihren Service in Anspruch nehmen?
Gaßmann: Baden-Württemberg ist mit knapper Mehrheit ein Mieterland. Wenn Sie in die Städte schauen, sieht es dann natürlich schon ganz anders aus. In den Städten liegt die Mieterquote bei 70 bis 75 Prozent. In Stuttgart leicht über 70 Prozent. Das liegt nicht nur daran, dass Eigentum teuer ist. Die Mieterorganisation ist nicht eine Organisation der Ärmsten, sondern auch der Menschen, die aufgrund ihres Lebens mobil sein wollen und sich nicht an eine Immobilie binden wollen.
Was ist Ihnen wichtig, wenn es um das Thema „Wohnen in Stuttgart“ geht?
Gaßmann: Ich glaube, das Wichtigste in einer Stadt ist, dass unterschiedliche soziale Schichten gemeinsam wohnen können, dass weder Armenghettos noch Reichenghettos entstehen. Das ist das, was die europäische Stadt prägt: eine gesunde soziale Durchmischung.
Welche Ziele verfolgen Sie hierfür im Mieterverein?
Gaßmann: Durch innerstädtischen Wohnraummangel und explodierende Kauf- und Mietpreise gibt es einen Verdrängungseffekt an die Stadtränder und über die Stadtränder hinaus. Deswegen ist eine unserer Zielsetzungen ein ausreichendes und bezahlbares Wohnungsangebot in der Stadt zu haben. Von dieser Zielsetzung sind wir in Stuttgart weit entfernt: In den letzten fünf Jahren sind jährlich ungefähr 7.000 Menschen durch Zuwanderung nach Stuttgart gekommen. Man rechnet auf eine Wohnung zwei Personen, d. h. es hätte 3.500 zusätzlich zu vermietende Wohnungen pro Jahr bedurft. Geschaffen wurden lediglich 1.500 durchschnittlich. Das wiederum heißt, seit fünf Jahren nimmt der Wohnungsmangel um 2.500 Wohnungen pro Jahr zu. Dies führt zu Verwerfungen bei den Wohnungspreisen.
Unsere zweite Zielsetzung sind folglich mietpreisbegrenzende Vorschriften. Hier können wir aber nicht die Stadt belangen, sondern den Landes- und Bundesgesetzgeber. Neben diesen mietpreisbegrenzenden Vorschriften gilt es auch gesetzlich zu regeln, dass Mietzuschläge nach Modernisierungen verringert werden. Im Moment ist der Markt aus den Fugen.
Sie sagen, der Markt sei aus den Fugen. Was meinen Sie damit?
Gaßmann: Auf dem Markt treffen Angebot und Nachfrage aufeinander. Im Moment ist die Nachfrage nach Wohnungen dramatisch höher als das Angebot an Wohnungen. In den von mir geschilderten Zahlen liegt die Nachfrage jährlich bei mehr als 3.500 neuen Wohnungen, geschaffen wurden aber nur 1.500. In dieser Berechnung fehlen sogar noch demografische und gesellschaftliche Faktoren wie zum Beispiel die Tatsache, dass mehr Menschen alleine wohnen möchten und durch ansteigende Scheidungszahlen zusätzlich Wohnraum benötigt wird.
Was erwarten Sie für die Zukunft Stuttgarts hinsichtlich des Wohnens? Was glauben Sie, was passieren wird und was wünschen Sie sich?
Gaßmann: Wir kämpfen seit Jahren dafür, dass die Wohnbauziele der Stadt den Realitäten angepasst werden. Es gibt hier zu unserem Bedauern einen Konsens im Gemeinderat mit dem Oberbürgermeister, sich auf die Innenentwicklung zu begrenzen. Innenentwicklung bedeutet, dass dort, wo noch innerhalb von Wohnsiedlungen weiße Flecken sind, Wohnungen gebaut werden können. Zur Innenentwicklung zählt auch Stuttgart 21, wo mit 7.000 Wohnungen gerechnet wird. Diese Grundstücke stehen allerdings erst in ca. sechs Jahren zur Verfügung. Von daher sind wir der Auffassung, die Stadt muss sich klar dazu bekennen, dass Stuttgart eine wachsende Stadt ist. Stuttgart hat eine starke Wirtschaft und es besteht der Wunsch, diese wirtschaftliche Entwicklung noch weiter voranzutreiben. Geht man diesem Wunsch nach, muss man sich auch um die Wohnungssituation stärker kümmern und zusätzlich Gebiete für den Wohnungsbau ausweisen, um die Wohnbauziele der Realität anpassen.
Die derzeitige Wohnsituation in Stuttgart
Zahl der Einwohnenden, Mietpreise und weitere Fakten rund um das Thema „Wohnen in Stuttgart“
Inwiefern hat die Stadt Ihrer Meinung nach die Wohnbauziele der Realität anzupassen?
Gaßmann: Um es in Zahlen zu sagen: Die Stadt hat als Ziel angegeben, 1.800 Wohnungen im Jahr zu schaffen. Ich habe gerade erläutert, dass allein aufgrund der Zuwanderung das Doppelte notwendig wäre. Wir hatten gemeinsam mit dem Haus- und Grundbesitzervereins eine Studie über den Wohnraumbedarf in Auftrag gegeben. Aus dieser Studie ergibt sich, dass der rechnerische Bedarf sogar bei über 5.000 Wohnungen im Jahr liegt. Wir wissen auch, dass diese Wohnbauzahlen nicht zu erreichen sind. Aber das von der Stadt gesetzte Ziel von 1.800 Wohnungen muss angehoben werden.
Was sagen Sie zum Thema Gentrifizierung in Stuttgart?
Gaßmann: Die erste Gentrifizierungswelle hat in den 1980er-Jahren stattgefunden, damals unter der Überschrift „Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen“. Das hat angefangen mit dem Lehenviertel, Heusteigviertel, Stuttgarter Westen, wo also wirklich eine Bevölkerung ausgemustert worden ist, verdrängt worden ist. Vor allen Dingen Ältere und Familien, die sich diese Wohnungen nicht leisten konnten bzw. diese nicht kaufen konnten, nachdem Makler, Geschäftemacher, Mietshäuser aufgekauft, die Häuser in Eigentumswohnungen aufgeteilt und dann höchstgewinnbringend weiterverkauft haben. Wir hatten dann eine leichte Entspannungsphase in den 1990er-Jahren, da damals erheblich mehr gebaut wurde und neuer Wohnraum geschaffen wurde. Seit ungefähr zehn Jahren haben wir wieder Verdrängung insbesondere aus der Innenstadt und den innenstadtnahen Bezirken an die Stadtränder, an die Außenbezirke. Es zieht die Menschen jetzt schon nach außerhalb der Region.
Gentrifizierung ist auch in Stuttgart ein Problem, noch nicht in dem Ausmaß wie in London oder Paris, wo Normalverdiener gar nicht mehr in der Innenstadt wohnen können. Aber es werden mehr Maßnahmen notwendig sein, um diese Verdrängung durch die explodierenden Innenstadtmietpreise aufzuhalten.
Versagt die Stadt in ihrer Regulationsfunktion, wenn es um bezahlbaren Wohnraum und das Verhindern von Gentrifizierungsprozessen geht?
Gaßmann: Eindeutig ja. Die Stadt hat aufgrund falscher Analysen, Einschätzungen und Prognosen über die Einwohnerentwicklungen die Förderung des bezahlbaren Wohnraums faktisch vollkommen eingestellt. In manchen Jahren sind in Stuttgart gar keine Sozialwohnungen mehr gebaut worden, in den letzten Jahren im Schnitt ungefähr fünfzig. Hinzu kommt, dass Sozialwohnungen immer nur zeitlich gebunden als Sozialwohnungen gelten, dann fallen sie aus dieser Frist. Momentan verfügt die Stadt meines Wissens noch über 1.600 Belegungsrechte für Sozialwohnungen. Das ist für eine Großstadt sehr wenig. Wir haben in Stuttgart ungefähr 300.000 Mieterhaushalte. Das heißt, ungefähr fünf bis sechs Prozent des Gesamtwohnungsbestandes sind Sozialwohnungen. Zehn Prozent der Haushalte gelten als arm. Der errechnete Bedarf in Baden-Württemberg wären 500.000 Sozialwohnungen. Wir haben in Baden-Württemberg noch ungefähr 50.000 Wohnungen, also ein Zehntel des Bedarfs. Es gibt als Folge immer länger werdende Schlangen in der Notfallkartei der Stadt, inzwischen über 4.000 Haushalte. Und für sogenannte „Notfälle“ gibt es dann Wartezeiten von bis zu drei Jahren, bis man eine Wohnung zugeteilt bekommt.
Hinzu kommt etwas, das schon ein Thema für sich wäre: Bodenpolitik und Bodenrecht. Hier hat die Stadt Stuttgart in den letzten Jahren eine Ausverkaufspolitik betrieben. Man hat also Grundstücke aus der Hand gegeben, verkauft. Hierzu gehört allerdings auch etwas, das außerhalb der Möglichkeiten der Stadt steht, was aber seit den 1970er-Jahren auf der Agenda steht. Aber niemand traut sich, es umzusetzen, nämlich die Besteuerung von Wertzuwächsen bei Grund und Boden. Und die Mobilisierung damit auch von Grundstücken, die aus Spekulationsgründen zurückgehalten werden.
Können Sie sich vorstellen, warum die Stadt so agiert? Warum kümmert sich die Stadt nicht wesentlich mehr um sozialen Wohnraum?
Gaßmann: Zunächst Mal muss ein Problem bei einem Oberbürgermeister und einem Gemeinderat ankommen. Da sitzen aber nicht die Ärmsten. Sie haben eine Wohnung, sie haben vielleicht sogar ein schönes Haus. Und sie kennen die Wohnungsprobleme nur vom Hörensagen. Als wir schon vor vielen Jahren immer wieder auf die drängenden Wohnungsprobleme hingewiesen haben, wurde uns immer wieder entgegenhalten: „Das ist kein Problem hier, es gibt sogar zu viele Wohnungen in Stuttgart.“ Selbst 2011 gab es noch eine Vorlage aus dem Statistischen Amt der Stadt Stuttgart, es gäbe ein Überangebot an Wohnungen in Stuttgart. Man wollte es anders sehen.
Aber es gibt, wie ich vorher bereits andeutete, auch noch eine falsche Einschätzung, die von der Wissenschaft eben kam. Diese Statistiker, die Demografie als nachfragewirksamen Faktor im Wohnungsmarkt herausgestellt haben. Es ist nicht die Demografie, es ist die wirtschaftliche Entwicklung, die den Wohnungsbedarf bestimmt. Das war ein Grundfehler. Dieser wurde aber nicht nur in Stuttgart, sondern in allen Städten gemacht, und zwar bundesweit. Wir sprachen hier von einem schrumpfenden Land. Man hat die Einwohnerzahl in Deutschland bis 2020 auf 75 Mio. herunterprognostiziert. Inzwischen sind wir bei über 82 Mio. Da liegen Welten dazwischen. Das sind 3,5 Mio. Wohnungen, die sie mehr haben, oder eben nicht.
Als abschließende Frage: Wem gehört die Stadt?
Gaßmann: Eigentlich sollte sie allen Bürgern gehören. Damit passt nicht zusammen, dass kleine Haushalte mit geringerem Einkommen aus der Stadt verdrängt werden.
Gentrifizierung – was ist das?
Informationen zu Gentrifizierungsprozessen, deren Problematik und was die Politik damit zu tun hat.
Gentrifizierung in Stuttgart
Findet Gentrifizierung in Stuttgart statt? Wo sind Gentrifizierungsprozesse in Stuttgart zu verzeichnen und was tut die Stadt, um negative Entwicklungen zu bremsen?
Stand: November 2017