Mai 2012

Domitila Barrios de Chungara: Boliviens Hoffnung für Freiheit und Demokratie

Domitila Barrios de Chungara, die im März 2012 verstorben ist, wäre am 6. Mai 2012 75 Jahre alt geworden. Hierzulande wird der Freiheitskämpferin indigener Abstammung nur wenig Beachtung geschenkt.

Dies sind die Worte einer Frau, die man als Boliviens Hoffnung für Freiheit und Demokratie bezeichnen könnte:

 

„Die Beteiligung der Kameraden und der Kameradinnen – Das ist das Wichtigste für uns Frauen. Nur so werden wir eine bessere Zeit, ein besseres Volk und größeres Glück für uns alle erreichen können.“

Domitila Barrios de Chungara

Domitila Barrios de Chungara kommt 1947 in Pulacayo, einer kleinen Stadt in Bolivien, zur Welt. Als Tochter einer Minerfamilie erlebt sie von klein auf schreiende soziale Ungerechtigkeit in einem Land, in dem politische Repression, Patriachismus und Ausbeutung keine Fremdwörter sind.

Bereits im Alter von 10 Jahren verliert Barrios ihre Mutter, die einer schlimmen Krankheit erliegt. Die harte Arbeit in den Minen setzt einige Jahre später auch dem Leben des Vaters ein Ende. Die junge Domitila Barrios muss früh lernen, Verantwortung zu übernehmen: Nach dem Tod ihrer Eltern kümmert sie sich selbst um ihre 5 jüngeren Geschwister.


Domitila Barrios de Chungara ©Kommuniktationsstabsstelle der Bezirksregierung von Santa Cruz (Bolivien), www.santacruz.gob.bo

Im Alter von nur 15 Jahren und bereits verheiratet mit einem Minenarbeiter, schließt sich Barrios der Vereinigung der Hausfrauen des Minendistriktes "Siglo XX" (Comité de Amas de Casa del Distrito Minero Siglo XX) an. Bald macht sich das Führungstalent der jungen Frau bemerkbar: Barrios wird zur Generalsekretärin des Vereins ernannt.

Vor allem die miserablen Lebensbedingunen der Arbeiterfamilien in Bolivien sind es, die Barrios dazu bewegen, politisch aktiv zu werden: In der Minensiedlung, in der Domitila Barrios lebt, gibt es kein fließendes Wasser. Elektrizität ist nur wenige Stunden am Tag verfügbar und ein Leben in Würde ist den Menschen, die hier auf engstem Raum zusammengepfercht unter sehr schlechten hygienischen Bedingungen leben, kaum möglich. Nicht zuletzt Frauen sind die Leidtragenden dieser widrigen Umstände. Oft müssen sie bis zu 20 Stunden am Tag arbeiten, um ihre Familie ernähren zu können und den miserablen Lohn der Minenarbeiter, ihrer Ehemänner, etwas aufzubessern.


Plakat mit Domitila Barrios de Chungara ©Kommuniktationsstabsstelle der Bezirksregierung von Santa Cruz (Bolivien), www.santacruz.gob.bo

Immer wieder spiegelt sich die große soziale Ungerechtigkeit innerhalb Boliviens auch in Barrios persönlichem Schicksal wider. Nicht nur der frühe Tod ihrer Eltern prägt die Menschenrechtlerin fürs Leben. Auch eine ihrer fünf Schwestern stirbt aufgrund der katastrophalen Lebensverhältnisse in der Minensiedlung Siglo XX: Weil der Hunger zu sehr nagt, nimmt sie Essensreste aus dem Müll zu sich, der giftige Asche enthält.

Politisches Engagement in der Minensiedlung

Barrios beginnt, sich aktiv für die Rechte der Minenarbeiter und die der Frauen einzusetzen. Die Hausfrauenvereinigung des Siglo XX, der sie vorsitzt, dient ihr dabei als Plattform. Denn die Organisation gehört den beiden größten Arbeitervereinigungen Boliviens an. Für Barrios bildet die Partizipation von Frauen in der Politik und in der Kommune Teil eines großen Ganzen. Aus diesem Grund liegt der Bolivianerin die politische Bildung von Frauen besonders am Herzen:

„Wenn eine Frau in die Politik eingebunden wird und wenn sie eine Ausbildung hat, wird sie ihre Söhne mit anderen Ideen erziehen und aus den Söhnen werden andere Menschen werden.“

Domitila Barrios de Chungara


Barrios erkennt, dass Bildung eine Schlüsselrolle einnimmt, wenn es um gesellschaftliches Umdenken geht. Durch dieses hohe Gut kann der weibliche Teil der Gesellschaft mehr Rechte erlangen, kann die Arbeiterklasse besser in die Gesellschaft eingebunden werden.


Domitila Barrios de Chungara hält eine Rede ©Kommuniktationsstabsstelle der Bezirksregierung von Santa Cruz (Bolivien), www.santacruz.gob.bo

Die Bolivianerin wird zur Symbolfigur für unscheinbare Frauen, gerade aus sozial schwachen Schichten und oft indigener Abstammung. Sie repräsentiert Diejenigen, die sich – oft durch Schläge ihrer Ehemänner zum Schweigen gebracht – selbst nicht trauen, zu sprechen. Über das Radio kritisiert sie öffentlich Männer, die ihre Ehefrauen daran hindern, an den Protesten und Kundgebungen teilzunehmen oder sich in anderer Form an der Politik zu beteiligen.

Massaker von San Juan

1967 wird ein einschneidendes Jahr für Barrios: Um die Aufständischen in den Minen zu stoppen, schickt der zu dieser Zeit in Bolivien amtierende Diktator Réne Barrientos Ortuño Truppen in die Regionen Catavi und Llallagua, wo sich auch die Minensiedlung Siglo XX befindet.

Als unliebsame Aufständische wird Barrios von den Militärs festgehalten und grausam gefoltert – bis zum Verlust ihres ungeborenen Kindes. Doch nicht nur Barrios ist Opfer dieses traurigen Ereignisses, das später als Massaker von San Juan bezeichnet werden wird. Offiziellen Angaben zufolge werden 20 Tote und 70 Verletzte – zumeist Minenarbeiter und deren Angehörige – verzeichntet. Infolge ihrer Gefangenschaft flieht Barrios nach Mexiko.

Einladung zur Weltfrauenkonferenz in Mexiko

Doña Domi, wie Domitila Barrios de Chungara mittlerweile liebevoll von vielen ihrer Landsleute genannt wird, lässt sich jedoch auch im Ausland nicht davon abhalten, sich für die Rechte der bolivianischen Bevölkerung einzusetzen.

1975 wird sie zur ersten UN-Weltfrauenkonferenz in Mexiko eingeladen, wo die selbstbewusste junge Frau erstmals auf internationaler Ebene Aufmerksamkeit auf sich zieht. Hier vertritt sie eine Ansicht, die bei vielen westlichen Feministinnen auf Kritik stößt: Sie versteht den Kampf der Frauen nicht als einen gegen die Männer. Vielmehr sollten beide Geschlechter vereint und gleichberechtigt gegen ein politisches System kämpfen, das Männer und Frauen gleichermaßen unterdrückt.

Hungerstreik für Demokratie und Menschenrechte

Ende des Jahres 1977 erreicht der Protest der Arbeiterfrauen seinen Höhepunkt. Der diktatorische Machthaber Hugo Banzner Suárez verbietet politische Parteien und Vereinigungen. Bürgerliche Partizipation wird dadurch nahezu unmöglich gemacht. Barrios ist inzwischen nach Bolivien zurückgekehrt.

Aus Protest gegen den unhaltbaren politischen Zustand initiiert sie an Weihnachten einen Hungerstreik und erzielt damit eine geradezu unglaubliche Wirkung: Tausende von Menschen in ganz Bolivien – überwiegend Frauen – lassen sich von Barrios Empörung anstecken und schließen sich dem Streik an.

Die Demonstrierenden fordern in erster Linie freie Wahlen, eine Entmilitarisierung der Minen und die Freilassung gefangener Minenarbeiter/innen. Nach 23 Tagen erzwingen die Demonstrierenden den Sturz des Diktators – ein überwältigender Erfolg. Mehr als je zuvor stehen dem Land nun – zu Beginn des Jahres 1978 – die Türen zur Demokratie offen.

Schnell wird der Triumph der nach Freiheit und demokratischen Rechten strebenden Bevölkerung jedoch wieder überschattet: Ein weiterer Diktator erlangt die Macht in Bolivien und zwingt Barrios erneut dazu, das Land zu verlassen. Den unbeugsamen Willen zur Besserung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer geliebten Heimat kann auch das Exil nicht brechen.

1978 veröffentlicht Domitila Barrios zusammen mit Marena Viezzer ein Buch, in dem sie ihr Leben und ihren Kampf für Gerechtigkeit beschreibt:  “Wenn Sie mir erlauben, zu sprechen”.

Auch dem Ausland sollen die unüberwindbar weit auseinanderklaffenden sozialen Gegensätze in der bolivianischen Gesellschaft vor Augen geführt werden. Mit dem Buch, das in Dutzende Sprachen übersetzt wird, erlangt Barrios noch mehr Bekanntheit und Anerkennung auf internationaler Ebene.

So erhält sie 1981 den Bruno-Greisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte und wird 2005 sogar als eine von 1000 Frauen für den Friedensnobelpreis nominiert.

Schon aus den ersten Zeilen aus  “Wenn Sie mir erlauben, zu sprechen” wird deutlich, wie sehr Barrios sich verbunden fühlte mit ihrem Volk und dabei bescheiden geblieben ist:

„Was mir passiert ist, hätte genauso gut Hunderten von anderen Personen in meinem Land passieren können. Das möchte ich klarstellen, denn es gibt Menschen, die viel mehr als ich für unser Volk getan haben, die aber verstorben sind oder keine Möglichkeit hatten, bekannt zu werden. “

Domitila Barrios de Chungara

 

Bildung als wirkungsvollste Waffe im Kampf für Gerechtigkeit

Bildung ist und bleibt für Barrios bis zuletzt das wichtigste Mittel im Kampf für gesellschaftliche Gerechtigkeit. Noch im Jahr 2009 betont die zu diesem Zeitpunkt bereits über 70-Jährige in einem Interview: “Unser Ziel ist es, dass das Volk die Macht übernimmt, aber dafür braucht es Bildung.(…) Man muss das Volk „bewaffnen“.“


Domitila Barrios de Chungara  ©Kommuniktationsstabsstelle der Bezirksregierung von Santa Cruz (Bolivien), www.santacruz.gob.bo

Was hat Domitila Barrrios de Chungara mit ihrem Kampf um soziale Gerechtigkeit und für die Rechte der Frauen Boliviens bewirkt?

Bis zum heutigen Tag hat Bolivien mit einer massiven sozialen Ungerechtigkeit und fehlenden Möglichkeiten der politischen Partizipation zu kämpfen. Doch Barrios Engagement war keineswegs umsonst. Sie hat deutliche Zeichen gesetzt, die das einfache Volk und gerade Frauen dazu ermutigen, sich aktiv an der Politik zu beteiligen. Sie hat gezeigt, wie die vermeintlich Schwachen in der Gesellschaft gemeinsam Stärke beweisen  – und sogar den Sturz einer Diktatur bewirken – können. In Domitila Barrios de Chungara spiegeln sich die Chancen und Hoffnungen eines Landes wider, in dem der Kampf für demokratische Strukturen, Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit noch längst nicht beendet ist.

 

Mai 2012 (Miriam Schlasza)


Alle Fotos von Domitila Barrios de Chungara sind freundlicherweise von der Kommuniktationsstabsstelle der  Bezirksvregierung von Santa Cruz  (Bolivien) bereitgestellt worden, deren Gouvaneur Ruben Costas Aguilera ist. Im Internet ist die Bezirksregierung vertreten unter: www.santacruz.gob.bo (Original auf Spanisch: En el agradecimiento sería importante que figurara: "quien facilitó las fotografías de Domitila Chungara ha sido el Gobierno Departamental de Santa Cruz, cuyo Gobernador es Rubén Costas Aguilera, a través de la Dirección de Comunicación. La página web de la Gobernación es:  www.santacruz.gob.bo).

 



Weiterführende Literatur:

  • Viezzer, Moema ;Barrios de Chungara, Domitila: Wenn man mir erlaubt zu sprechen, Zeugnis einer Frau aus den Minen Boliviens , Göttingen, Lamuv Verlag: 1996
  • Originalausgabe:
     “Si me permiten hablar…”: testimonio de Domitila, una mujer de las minas de Bolivia. Ed. Moema Viezzer. México:Siglo XXI Editores: 1978.
  • Acebey, David (Hrsg.):  ¡Aquí también Domitila!,.Mexico: Siglo XXI Editores, 1985

 

Weiterführende Links:

  • TLAXCALA: Das Übersetzungsnetzwerk für sprachliche Vielfalt Kämpfe und Hoffnungen: Ein Treffen mit der legendären Frau Domitila Barrios de Chungara

Englischsprachige Links:

Spanischsprachige Links:

 

 

 

 

 

 

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