Dossier
Wahlsystem und Wahlen in der Türkei

Autoren:
Kemal Bozay ist Professor für Sozialwissenschaften und Soziale Arbeit an der IU Internationalen Hochschule am Standort Köln.
Burak Çopur ist Politikwissenschaftler und Professor an der IU Internationalen Hochschule am Standort Essen und Lehrbeauftragter am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen.
Das Wahlsystem in der Türkei geht auf die Einführung des Mehrparteiensystems im Jahr 1946 zurück. Während der ersten Jahre gab es zahlreiche Änderungen an den Wahlgesetzen, so beispielsweise der Wandel von einem relativen Mehrheitswahlrecht hin zu einem Verhältniswahlrecht. Im weiteren Verlauf wurden analog zu den politischen Entwicklungen in der Türkei mehrfach Änderungen am Wahlsystem vorgenommen, wie die Sperrklausel von 10 Prozent, die es vor allem kleineren Parteien – meist linken und prokurdischen Gruppierungen – unmöglich machte, ins Parlament einzuziehen.
In der Regierungsära der AKP unter Recep Tayyip Erdoğan erlebten Verfassung und Wahlsystem der Türkei einen tiefen Umbruch. Das Land wandelte sich 2018 zu einem autoritären Präsidialsystem. Im Zuge der anstehenden Parlamentswahlen am 14. Mai 2023 vertiefen sich die Spannungen, die insbesondere aufgrund dieses Präsidialsystems entstehen.
Ausgangslage bei den Wahlen am 14. Mai 2023
Selbst wenn die Umfragewerte nach dem schweren Erdbeben vom 6. Februar 2023 für Erdoğans AKP nicht besonders gutstehen, gibt es eine Reihe von politischen Vorteilen und Möglichkeiten, von denen die AKP bei den bevorstehenden Wahlen profitieren kann. Zunächst existieren ungleiche Voraussetzungen und Rahmenbedingungen zwischen Regierung und Opposition. Erdoğan kann als Präsident bis zur letzten Minute die staatlichen Mittel und Ressourcen in seinem Wahlkampf nutzen und von seinem zwanzigjährigen Amtsbonus sowie seiner Machtposition in jeglicher Form Gebrauch machen.
Bis zur Wahl werden die Türkei vermutlich turbulente Zeiten erwarten. So könnte der türkisch-kurdische sowie der sunnitisch-alevitische Konflikt weiter angeheizt werden. Durch diese innenpolitische Destabilisierung könnte wiederum der Ausnahmezustand in den Erdbebengebieten flächendeckend ausgeweitet und die Opposition während des Wahlkampfs weiter unterdrückt werden.
Auf Seiten der Opposition sind zudem nicht nur wichtige Vertreterinnen und Vertreter der prokurdischen HDP im Gefängnis (wie der ehemalige Co-Parteichef Selahattin Demirtaş und viele abgesetzte Oberbürgermeister der HDP), sondern es ist auch ein Verbotsverfahren gegen die HDP anhängig, über das das Verfassungsgericht noch zu entscheiden hat. Der HDP kommt hingegen mit rund 10 Prozent der Stimmen eine Schlüsselposition bei den Wahlen zu. Mit ihren Wählerinnen und Wählern könnte sie zudem bei den Präsidentschaftswahlen zum „Königsmacher“ werden. Des Weiteren ist gegen einen aussichtsreichen Gegenkandidaten Erdoğans, den Oberbürgermeister von Istanbul Ekrem İmamoğlu (CHP), in erster gerichtlicher Instanz ein Politikverbot auferlegt worden, dass zwar noch nicht rechtkräftig ist, aber seine Präsidentschaftskandidatur faktisch in Frage gestellt hat. Wegen seiner Popularität wurde der Istanbuler Oberbürgermeister stattdessen Anfang März 2023 zu einem möglichen stellvertretenden Präsidenten des Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) ernannt.
Darüber hinaus ist in der Türkei die Presse- und Meinungsfreiheit im Rahmen des Wahlkampfes nicht wirklich gegeben. Die meisten Fernseh- und Radiosender sind unter der Kontrolle der Regierung, die sozialen Medien werden durch das „Desinformationsgesetz“ eingeschränkt und oppositionelle Medien werden gesperrt oder sind verboten.
Auch die hier im Anschluss vorgestellten aktuellen Änderungen des Wahlgesetzes, die politisierte Justiz sowie die erneute Möglichkeit der Instrumentalisierung des Hohen Wahlausschusses sind als ungleiche und nicht faire Ausgangsbedingungen für die Opposition zu sehen. Von freien und sicheren Wahlen wie in liberalen Demokratien kann auch bei den anstehenden Wahlen in der Türkei keine Rede sein . Nicht ausgeschlossen bleibt, dass auch die Hochrechnungen und Wahlergebnisse noch am Wahlabend manipuliert werden und im Anschluss mit der Ausrufung des Wahlsieges von Präsident Erdoğan Fakten geschaffen werden. Eine nationale und internationale unabhängige Wahlbeobachtung wird schon deshalb eine zentrale Rolle bei den anstehenden Wahlen in der Türkei spielen. Aus all diesen Gründen bleibt deshalb mit Spannung abzuwarten, wie dieser Kampf „David gegen Goliath“ bei den kommenden Wahlen ausgehen wird.
Das türkische Wahlsystem und die Durchführung von Wahlen
Auf der Grundlage von Verfassungsänderungen im Jahr 2018 werden am 14. Mai 2023 Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in der Türkei stattfinden. Der Staatspräsident wird alle fünf Jahre direkt durch die türkischen Wählerinnen und Wähler gewählt und darf maximal zwei Amtszeiten regieren. Sofern keiner der Präsidentschaftskandidaten im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Wählerstimmen auf sich vereinen kann, findet nach zwei Wochen ein erneuter zweiter Wahlgang statt, bei dem die zwei stimmenstärksten Kandidaten gegeneinander antreten und dann mit einer einfachen Mehrheit zum Präsidenten gewählt werden können.
Auch die 600 Abgeordneten der Türkischen Nationalversammlung (TBMM) werden im Fünfjahresrhythmus im Rahmen einer Verhältniswahl gewählt, wobei Parlamentswahlen und Präsidentschaftswahlen am selben Tag stattfinden müssen. Die Sitzverteilung im Parlament wird mithilfe des d’Hondtschen Verfahrens durchgeführt. In der Türkei müssen zudem ab dem 6. April 2023 die Änderungen des neuen Wahlgesetzes umgesetzt werden (siehe unten).
Ursprünglich sollten die Wahlen nach amtlichem Termin am 18. Juni 2023 stattfinden. Präsident Erdoğan hatte allerdings noch vor dem schweren Erdbeben vom 6. Februar 2023 erklärt, die Wahlen um einen Monat auf den 14. Mai 2023 vorziehen zu wollen. Am 10. März 2023 ordnete er dann per Dekret auf Grundlage des Artikels 116 der türkischen Verfassung an, die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen auf jenen 14. Mai 2023 vorzuverlegen.

Die aktuellen Änderungen im Wahlgesetz
Mit Parlamentsbeschluss vom 31. März 2022 wurden Änderungen des Wahlgesetzes beschlossen. Die fünf zentralen Punkte dieser Novellierungen werden im Folgenden dargestellt:
Absenkung der Sperrklausel von 10 auf 7 Prozent
Die bislang geltende Sperrklausel von 10 Prozent für den Einzug von Parteien in das türkische Parlament war die weltweit höchste. Sie wurde nach dem Militärputsch 1980 eingeführt, um kurdische Parteien aus dem Parlament fernzuhalten und kleineren Parteien den Parlamentseinzug erst gar nicht zu ermöglichen. Nun wurde sie von 10 auf 7 Prozent gesenkt.
Die Absenkung dient vor allem dazu, der rechtextremistischen MHP, dem Bündnispartner der regierenden AKP, den Sprung ins Parlament zu ermöglichen. Sie ist durchaus als ein eigennütziges Geschenk der AKP an die MHP zu verstehen. Denn nach den meisten aktuellen Umfragen hätte die MHP die Sperrklausel von 10 Prozent nicht überwinden können. Bis zum Wahltag bleibt allerdings fraglich, ob sie überhaupt die neue Hürde von 7 Prozent überwinden kann.
Eine Absenkung der einzigartig hohen Zehnprozenthürde mag zwar auf den ersten Blick erfreulich sein, aber bedenkt man, dass die Türkei durch ein autoritäres Präsidialsystem regiert wird und faktisch alle Staatsgewalt vom Präsidenten ausgeht, stärkt diese geringe Absenkung der Hürde nicht unbedingt die Teilhabe und Repräsentation unterschiedlicher türkischer Wählergruppen. Für eine Stärkung der demokratischen Repräsentation müsste vielmehr die Hürde gänzlich abgeschafft werden.
Modifikation bei der Berechnung der Abgeordnetenmandate
Die Sitzverteilung im Parlament erfolgt nicht mehr auf Grundlage der Wahlbündnisse (wie bei der Parlamentswahlen 2018), sondern auf Basis der tatsächlichen Stimmen für die einzelnen Parteien.
2018 traten AKP und MHP in dem Wahlbündnis „Volksallianz“ (Cumhur İttifakı) an. Die Opposition aus CHP, İYİ-Partei, Demokratischer Partei und Partei der Glückseligkeit kandidierte im Rahmen des „Bündnisses der Nation“ (Millet İttifakı). Während es 2018 noch möglich war, mit gemeinsamen Bündnissen die Zehnprozenthürde zu überwinden, muss jetzt jede einzelne Partei in den entsprechenden Wahlbezirken die Siebenprozenthürde überwinden, was kleinere Parteien in Wahlbündnissen benachteiligt. Diese Voraussetzung mögen zwar stärkere Oppositionsparteien wie CHP und IYI-Partei landesweit erfüllen, aber kleinere Oppositionsparteien wie beispielsweise die AKP-Abspaltungen DEVA (Partei für Demokratie und Fortschritt) oder die Zukunftspartei (Gelecek Partisi) werden ihre Kandidaten womöglich auf den Kandidatenlisten der beiden größeren Oppositionsparteien platzieren müssen. Dieser Umstand macht Abstimmungs-, Verhandlungs- und Verständigungsprozesse innerhalb der Opposition nicht unbedingt einfacher.
Restriktionen für die Zulassung einer Partei zur Wahl
Bisher mussten Parteien für eine Beteiligung an Wahlen in mindestens der Hälfte aller türkischen Provinzen (also in 41 von 81 Provinzen) sechs Monate vor den Wahlen ihre Parteiorgane aufgebaut und ihren Gründungsparteitag abgehalten haben. Alternativ genügte auch der Fraktionsstatus mit mindestens 15 Abgeordneten im türkischen Parlament.
Während die erste Regelung des Parteiaufbaus in den Provinzen erhalten blieb, wurde die zweite Möglichkeit des Fraktionsstatus aktuell aufgehoben. Diese Restriktion richtet sich offensichtlich gegen die prokurdische HDP, gegen die ein Verbotsverfahren anhängig ist, über das das Verfassungsgericht noch vor den Wahlen eine Entscheidung treffen könnte. Im Falle eines kurzfristig vor den Wahlen erfolgenden Verbots würde der HDP ihr jetziger Fraktionsstatus im Parlament nicht mehr helfen und es wäre ihr wohl zeitlich nicht mehr möglich, eine neue Partei zu gründen und diese noch flächendeckend aufzubauen. Erschwerend kommt hinzu, dass das Verfassungsgericht im Januar 2023 die HDP von der staatlichen Parteifinanzierung wegen des Vorwurfs der „Verbindungen zum Terrorismus“ ausgeschlossen hat.
Neureglung bei der Bestimmung der Richter für die Wahlausschüsse
Für eine ordnungsgemäße Durchführung von Wahlen wurden bisher in der Türkei Provinz- und Bezirkswahlausschüsse gebildet. Für diese Ausschüsse wurden vor der Wahlgesetzänderung automatisch erfahrene Richterinnen und Richter mit hohem Dienstalter und langer Dienstzeit bestellt. Mit der neuen Regelung ist dieser Passus abgeschafft und es werden komplett neue Wahlausschüsse zusammengesetzt. Von nun an ist nicht das Kriterium Dienstzeit, sondern die berufliche Entwicklung und Beförderung der Richterinnen und Richter für ihre Bestellung in den Wahlausschuss ausschlaggebend. Zudem werden diese nun per Losverfahren ausgewählt. Dieses Verfahren könnte dazu führen, dass auf verbeamtete regierungskritische Richterinnen und Richter politischer Druck ausgeübt wird, sich nicht am Losverfahren zu beteiligen. Gängige Praktiken sind hier Versetzungen und andere Formen der beruflichen Benachteiligung für Beamte.
Obwohl die CHP im vergangenen Jahr gegen diese Vorschrift eine Klage beim Verfassungsgericht eingereicht hatte, wurde diese Anfang 2023 vom Verfassungsgericht abgelehnt.
Ausnahmeerlaubnis für den Präsidenten zur Nutzung staatlicher Mittel während des Wahlkampfes
Aufgrund des Gebots einer freien und fairen Wahl war es in der Türkei dem Regierungschef, den Ministerinnen und Ministern sowie den Abgeordneten während der Wahlkampfphase verwehrt, staatliche Mittel für ihren Wahlkampf zu nutzen. Mit der neuen Regelung ist der Präsident von dieser Vorschrift befreit. Er darf somit während der Wahlkampfzeit weiterhin von allen staatlichen Mitteln Gebrauch machen, wie z. B. der Nutzung von Dienstautos, der Teilnahme an offiziellen Veranstaltungen (z. B. Spatenstiche und Feiern) sowie der Organisation von eigenen Empfängen im Präsidialgebäude.
Der Hohe Wahlausschuss als politisches Instrument der AKP
Eine zunehmend strategische Schlüsselfunktion kam und kommt bei den Wahlen dem Hohen Wahlausschuss (Yüksek Seçim Kurulu, YSK) zu. Er ist eine Rechtsinstitution, die aus elf Richtern besteht, die vom Kassationshof (Yargıtay) und dem Staatsrat (Danıştay) bestimmt werden. Gegen die Entscheidungen des Hohen Wahlrats ist bei Wahlen und Referenden der Rechtsweg ausgeschlossen.
Da die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Judikative und Exekutive in der Türkei nicht mehr garantiert ist, sondern die Staatsgewalt vorwiegend von der Exekutive ausgeübt wird, ist die politische Beeinflussung der Justiz und ihre Instrumentalisierung für politische Zwecke besonders hoch. Somit dominiert Staatspräsident Erdoğan durch seine Machtposition auch den Hohen Wahlausschusses.
In den vergangenen Jahren haben beispielsweise zwei besonders wichtige Entscheidungen des Hohen Wahlausschusses die Unabhängigkeit dieser Institution in Frage gestellt. So tauchten bei der Stimmauszählung des Verfassungsreferendums 2017 inoffizielle Stimmzettel, also Stimmzettel und Umschläge ohne amtliche Stempel auf, die zwar de jure ungültig sind, aber vom Hohen Wahlausschuss für rechtsgültig erklärt wurden. Das Referendum mit den Änderungen zur Etablierung eines Präsidialsystems wurde mit insgesamt 51,4 Prozent der Stimmen nur knapp entschieden.
Eine ähnliche Entwicklung zeigte sich bei den Oberbürgermeisterwahlen am 31. März 2019. Die AKP verlor hier wichtige Metropolen, darunter Istanbul und Ankara, an die oppositionelle CHP. In Istanbul lag Ekrem İmamoğlu von der CHP mit etwa 24.000 Stimmen bei der ursprünglichen Wahl im März 2019 knapp vor dem ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım (AKP). Bei der Abstimmung in Istanbul sprach Erdoğan von „organisierter Kriminalität“ der Opposition. AKP und MHP legten gemeinsam eine „außerordentliche Beschwerde“ beim Hohen Wahlausschuss ein. Durch den politischen Druck auf die Wahlbehörde wurde die Bürgermeisterwahl in Istanbul wegen angeblicher Regelwidrigkeiten am 23. Juni 2019 wiederholt. Bei der Neuwahl gewann İmamoğlu von der CHP erneut, diesmal jedoch mit einem Vorsprung von über 800.000 Stimmen, was etwas mehr als 54 Prozent der Stimmen bedeutete.
Vor der Entscheidung, dass die Wahlen am 14. Mai 2023 stattfinden, gab es erneut Spekulationen, dass Präsident Erdoğan den Hohen Wahlausschuss für seinen Machterhalt instrumentalisieren und missbrauchen könnte. Da die Umfragewerte für die Regierung nach dem verheerenden Krisenmanagement und dem Staatsversagen nach dem Erdbeben nichts Gutes versprachen, wurde von der Opposition vermutet, Erdoğan werde die Wahlen um mindestens ein Jahr verschieben. Diesbezüglich hatte wohl Erdoğan einen seiner Vertrauten seinen Plan öffentlich erklären lassen. So forderte jüngst der einstige Vizepremier und AKP-Gründungsmitglied Bülent Arinç, die Wahlen erst 2024 durchzuführen, da in den Erdbebengebieten die Infrastruktur wiederaufgebaut und Wählerverzeichnisse aktualisiert werden müssten. Diese Überlegung ist aber rechtlich nicht möglich, weil die türkische Verfassung eine Verschiebung der Parlamentswahlen nur im Kriegsfall vorsieht. Folglich stieß die Idee auch prompt auf heftigen Widerstand bei allen Oppositionsparteien, die das Vorhaben mit einem „zivilen Putsch“ verglichen. Eine transparente Verschiebung der Wahlen vorzuschlagen, würde wiederum in der Öffentlichkeit als politische Schwäche Erdoğans ausgelegt werden können.
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Quellen & weitere Infos
Letzte Aktualisierung: Mai 2023