Wie verändert der Populismus Europa?
Der Populismus ist in Europa längst zum Problem geworden – darin waren sich die Diskussionsteilnehmer einig, die sich am 6. Juni im Stuttgarter Rathaus austauschten. Unter dem Titel „Geschlossene Gesellschaften? Populismus und seine Folgen für Europa“ hatten das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) und die Stadt Stuttgart eingeladen.
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Unter der Diskussionsleitung von Dr. Christoph Reisinger, Chefredakteur der Stuttgarter Nachrichten, waren es vor allem Martin Kotthaus und Silviu Mihai, die Impulse zum Thema lieferten. Entsprechend des Titels der Veranstaltungsreihe „Außenpolitik live- Diplomaten im Dialog“ waren mit ihnen Akteure vertreten, die beide viel Erfahrung aus der europäischen Politik mitbrachten. Kotthaus vertritt seit 2014 die Leitung der Europa-Abteilung im Auswärtigen Amt und hatte nach seinem Studium der Rechtswissenschaften und Internationalen Beziehungen zahlreiche Positionen im In- und Ausland inne, unter anderem auch für Gruner + Jahr. Mihai dagegen arbeitet seit 2005 als freier Journalist und hat seinen Schwerpunkt bereits während des Politik- und Philosophiestudiums in Budapest, Bukarest und Berlin auf die EU-Integration osteuropäischer Staaten gelegt.
„Es wird kaum noch normal über Europa gesprochen“, lauteten die Eingangsworte, die Andrea Klett-Einiger als Stadtdirektorin und persönliche Referentin des Oberbürgermeisters zur Begrüßung sprach. Dabei verwies sie auf die aktuelle Kolumne von Jakob Augstein „im Zweifel links“ (SPIEGEL, 26/2016), in dem er Europa am Ende sieht und sich mit „Adieu, Europa“ pessimistisch positioniert. Klett-Einiger meinte, sie fühle sich bezüglich des Populismus an die Geschichte des Rattenfängers von Hameln erinnert, der - um seinen Lohn geprellt - Rache begeht. Für sie aber sei konstruktives Vorgehen viel wichtiger: „Was können wir tun, um Europa wieder mit Leben zu füllen?“ Diesem Plädoyer schloss sich auch Ronald Grätz an, der als Generalsekretär das ifa vertrat und den Anspruch des Instituts hervorhob, globale Entwicklungen aus kultureller Perspektive zu beleuchten. Er merkte an, dass zentrale Werte der EU wie die Solidarität und Einheit auf die Probe gestellt seien, Demokratie aber nur durch den steten Prozess des Dialogs aufrechterhalten werden könne.
„Die EU hat in der Vergangenheit mehrfach bewiesen, dass sie gestärkt aus Krisen hervorgehen kann.“
So vertrat Martin Kotthaus seine Sicht und machte zunächst deutlich, dass die aktuelle Situation Europas widersprüchlich beurteilt und die Zukunft ebenso gut negativ wie positiv gezeichnet werden könne. Schließlich sei 2016 einiges in Bewegung, sagte er mit Blick auf die Verhandlungen mit der Türkei, die Gespräche mit Polen, die griechische Wirtschaft, die Zukunft Zyperns und auch die am 23. Juni bevorstehende Abstimmung der Briten über einen Austritt aus der EU. Er führte Fortschritte der EU an, wie etwa die Umsetzung einer europäischen Bankenaufsicht und zeigte sich optimistisch, mit einem Europäischen Grenz- und Küstenschutz Ende Juni weitere wichtige Schritte nach vorn zu gehen. Eine europäische Lösung sei nach wie vor machbar: „Selbst ich hatte letztes Jahr manchmal Zweifel, ob wir einen europäischen Konsens noch hinbekommen. Das hat sich seit 2016 gebessert. Aber ich gebe gerne zu: Das ist alles fragil.“ Er mahnte, nicht zu vergessen, dass die EU als Bündnis ursprünglich mit dem Ziel geschlossen wurde, den Frieden zu sichern. Diese stabilisierende Funktion hätte sie auch heute noch: „Ohne eine Beitrittsperspektive zur EU wäre der Balkan komplett destabilisiert. Deshalb müssen wir festhalten: Oft sieht die EU von außen schöner aus, als für die Staaten, die in ihr drin sind.“
Der Journalist Silviu Mihai, am selben Morgen noch in Budapest gewesen, blieb da deutlich verhaltener. Er verwies auf die Regierung Orbans, die seit 2010 in Ungarn an der Macht ist und mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit Änderungen bezüglich der Verfassung und des Verfassungsgerichts vorgenommen, sowie das System der gegenseitigen Kontrolle ausgehebelt habe. Von den 1294 Flüchtlingen, zu deren Aufnahme sich Ungarn im Herbst 2015 verpflichtet hatte, sei kaum noch die Rede. Seine Zweifel betrafen auch die Entwicklungen in Polen, Kroatien und auch Tschechien, wo bereits über ein „Tschexit“ diskutiert würde. „Diese Dinge könnten uns alle betreffen – wir sollten sie sehr ernst nehmen“, warf er ein, wusste selbst aber auch keinen Rat: „Natürlich hat die Demokratie Grenzen. Man kann den Ungarinnen und Ungarn nicht auf die Finger hauen und sagen: Mach das Kreuz nicht da.“ Der Möglichkeit von Kompromissen schrieb er mit Blick auf Ungarn wenig Erfolg zu. Doch hob er hervor, dass es den EU- Mitgliedsstaaten von 2004 nicht in erster Linie bei einem EU-Beitritt um finanzielle Vorteile gegangen sei. Vielmehr hätten auch Vorteile von Transferleistungen, Freizügigkeit und Zugang zu Bildung zum Beitritt überzeugt, ganz zu Schweigen von der Kraft, die eine wiedervereinigtes Europa hatte, woran man sich seiner Meinung wieder mehr erinnern müsse.
"Es ging um das Gefühl: Man erfüllt ein Versprechen nach 1989. Das hat man ein bisschen vergessen."
An dieser Stelle war es Kotthaus wichtig, einen Punkt deutlich zu machen: Der Populismus sei keinesfalls ein Problem, das nur Osteuropa betreffe. Immerhin 150 Abgeordnete des Europäischen Parlaments seien inzwischen erklärte EU-Gegner und würden damit die drittstärkste Fraktion stellen. Dennoch sei das Vertrauen der meisten Bürger in die EU noch immer größer als in die nationalen Regierungen, weshalb Kotthaus nahelegte: „Man sollte die Ansprüche an die EU nicht höher schrauben als an die nationale Regierung.“ Das Problem des Populismus sieht er unmittelbar mit dem Gefühl von Kontrollverlust verbunden. So mahnte er, die Bürger stärker zu involvieren, wobei er zugleich relativierte, dass die EU bereits jetzt etwa durch die live-Übertragung von Debatten im Parlament in einem Maß transparent sei, wie es kaum in nationalen Regierungen zu finden sei. Auch liege der Fokus inzwischen konzentriert auf den Punkten, die tatsächlich Relevanz hätten. Einen anderen Aspekt der Kontrolle unterstrich er, als er auf die Stärke verwies, die ein Gremium aus 28 Mitgliedsstaaten auf Abweichler habe, sollten diese zur Rechtfertigung gezwungen sein. Doch reicht das aus, um dem Populismus etwas entgegenzusetzen?
Die Interaktion mit dem Publikum kam nur schleppend in Gang und so blieb die Diskussion eher im Stil mahnender Statements, die mal größeren, mal zaghafteren Optimismus an den Tag legten. Doch lässt sich die Botschaft, die am Schluss stand, vielleicht folgendermaßen zusammenfassen: Populismus betrifft nicht nur einzelne Länder, sondern ganz Europa und sollte in allen Punkten ernst genommen werden. Eine Geschlossene Gesellschaft im Sinne Karl Poppers, also in Form von kultureller Homogenität, sei heute allerdings noch nicht gegeben, zog Kotthaus mit Blick auf die aktuelle Migrationbewegung nach Europa das Fazit.
von Anna Vogel