Dossier


Die Verfassung der Türkei

Autoren:
Kemal Bozay ist Professor für Sozialwissenschaften und Soziale Arbeit an der IU Internationalen Hochschule am Standort Köln.

Burak Çopur ist Politikwissenschaftler und Professor an der IU Internationalen Hochschule am Standort Essen und Lehrbeauftragter am Institut für Turkistik der Universität Duisburg-Essen.

Die Geschichte und Entwicklung der Verfassung der Türkei ist eng mit der politischen Geschichte des Landes verbunden. Die Türkei hat im Laufe der Jahrzehnte mehrere Verfassungsveränderungen erlebt, die einen Wandel von der republikanischen Verfassung hin zu einem autokratischen Präsidialsystem unter islamischen Vorzeichen vollzogen haben. Im Folgenden wird die Geschichte und Entwicklung der türkischen Verfassung näher erläutert.

Der Niedergang des Osmanischen Reiches und die Entstehung der türkischen Verfassung

Die erste türkische Verfassung wurde im Jahr 1876 während der osmanischen Herrschaft erlassen. Diese Verfassung wurde auch als „Kanun-i Esasi“ bezeichnet und führte das Konzept der Verfassungsmäßigkeit im osmanischen System ein. Die Verfassung definierte nicht nur die Rechte und Pflichten der Bevölkerung, sondern auch die Grenzen der Regierungsmacht. Sie etablierte zugleich zwei Kammern im Parlament, den Senat und die Abgeordnetenkammer. Aufgrund der Machtkämpfe innerhalb des Osmanischen Reiches wurde die „Kanun-i Esasi“ mehrmals geändert. Zuletzt wurde im Jahr 1908 eine neue Verfassung verabschiedet, die als „Reichsverfassung“ bekannt war und im Zusammenhang mit der jungtürkischen Revolution stand. Diese Verfassung wollte einen einheitlichen Staat etablieren, der sich auf die Eliminierung der politischen Gegner stützte. Im Rahmen dieser Verfassung wurde auch die Gewaltenteilung festgelegt und ein Parlament mit nurmehr einer Kammer etabliert.

Im Zuge des Ersten Weltkriegs stand das damalige multiethnische und multireligiöse Osmanische Reich vor einem Zusammenbruch. Dem folgte ein erfolgreicher Befreiungskampf gegen die Besatzungsmächte, der der Türkei mit dem Friedensvertrag von Lausanne (24. Juli 1923) eine internationale Anerkennung brachte. Durch den erfolgreichen Befreiungskampf in der Türkei wurde im Oktober 1923 auch die souveräne Republik Türkei proklamiert, zu deren Staatspräsidenten Mustafa Kemal Atatürk ernannt wurde.

In den Anfängen orientierte sich der kemalistische Staat nicht an einem bestimmten ökonomischen, politischen oder ideologischen System. Erst mit der Verwirklichung der kemalistischen Reformen, etwa in der Mitte der Ära Atatürk (1923–1938), entwickelte sich der Kemalismus zu einer eigenen Ideologie. Atatürk verfolgte das Ziel, das gesamte Gesellschaftssystem von Grund auf zu verändern (Buhbe 1996: 13 f.).

Unter Einfluss der europäisch geprägten Rechtsordnung sowie der Eliminierung der Scharia erhielt das Land 1924 seine erste republikanische Verfassung. 1925 wurde der gregorianische Kalender eingeführt, die traditionellen Kopfbedeckungen Turban und Fes wurden durch das sogenannte Hut-Gesetz verboten. Fortan blieb nur Geistlichen eine religiöse Kleidung gestattet. 1928 wurde das lateinische Alphabet angenommen. Parallel dazu erfolgte eine Sprachreform, mit der aus dem Arabischen und Persischen stammende Wörter durch das Türkische ersetzt werden sollten. 

Die Reformen setzten sich fort mit der Neuschaffung eines Strafgesetzbuches von 1926, angelehnt an das italienische Strafgesetzbuch. Auch die Schweizer Zivilprozessordnung (1927) und die deutsche Strafprozessordnung (1929) hatten Einfluss auf die weitere Strafgesetzgebung in der Türkei. 1933 wurde die nach osmanischen Richtlinien gegründete Hochschule Darülfünun geschlossen und eine Bildungsreform nach westlicher Art durchgesetzt. 1930 und 1934 wurde das aktive und passive Wahlrecht für Frauen eingeführt, was zu dieser Zeit fortschrittlich war, wenn man bedenkt, dass dies in einigen europäischen Ländern erst deutlich später erfolgte. 1934/35 wurde auch der wöchentliche Feiertag vom Freitag auf den Sonntag verlegt, die religiösen Titel abgeschafft und Familiennamen eingeführt. Ron Ayres (1987, S. 82) ordnet diese Maßnahmen folgendermaßen ein:

„Diese Reformen verfolgten einen zweifachen Zweck: Sie sollten die Position der kemalistischen Bürokratie bei der Ausübung der Staatsmacht festigen, um die Einbindung der Türkei in die kapitalistische Welt durch einen Prozess der ‚Verwestlichung‘ zu fördern. Erfolgreich waren die Reformen auch in Bezug auf die langfristige Bindung verschiedener gesellschaftlicher Schichten an den Kemalismus. Sie bewirkten außerdem, dass die osmanische Bürokratie durch einen neuen Typ von Intelligenzia ersetzt wurde, und sie schufen einen neuen ‚Dienstleistungssektor‘, der dieser ‚kemalistischen Intelligenzia‘ ihr Auskommen sicherte.“

Die im April 1924 eingeführte neue Verfassung der Türkei erhielt ihren ideologischen Bezugsrahmen mit den sechs Grundprinzipien des Kemalismus, auf denen sich die Türkei entwickeln sollte:

  1. Reformismus bzw. Modernismus,
  2. Republikanismus,
  3. Etatismus,
  4. Laizismus,
  5. Populismus und
  6. Nationalismus.

Während der Populismus als Prinzip der Einparteienherrschaft entsprach, bildeten den Nationalismus einerseits die nationale Unabhängigkeit und andererseits die Vereinigung der Turkvölker sowie die Leugnung der Existenz von ethnischen Minoritäten im Lande (Şahinler 1997: 70 f.).

Die türkische Verfassung im Schatten militärischer Interventionen

Seit der Republikgründung im Jahre 1923 wurden die politischen Entscheidungen in der Türkei vom Militär entweder mit beeinflusst oder direkt bestimmt. In ihrer beherrschenden Stellung verstand sich die Armee als Beschützerin des Staates, der eine absolute Macht über die Bürgerinnen und Bürger sowie gesellschaftliche Strukturen sichern sollte. Wer sich dem Staat gegenüber nicht loyal zeigte, musste mit entsprechenden Konsequenzen rechnen. Daher war das aktive Eingreifen der Militärs in das politische Geschehen stets fester Bestandteil der Geschichte der Türkei. Die verschiedenen Militärputsche (1960, 1971, 1980, 1997, 2016) wurden größtenteils mit äußeren und inneren „Staatsfeinden“ gerechtfertigt.

Im Jahr 1961 wurde eine neue Verfassung verabschiedet. Sie wurde im Rahmen des politischen Wandels in der Türkei ausgearbeitet, nachdem die Regierung von Adnan Menderes (1950–1960) durch einen Militärputsch gestürzt worden war. Die Verfassung von 1961 definierte die Grundrechte und die Gewaltenteilung und etablierte ein System der Rechtsprechung, das auch demokratische Grundrechte und Freiheiten absicherte. Doch mit dem Militärputsch von 1971 erlebte diese Verfassung einen tiefen Einschnitt. Damit entwickelte sich zwischen 1961 und 1980 das Verfassungssystem der Türkei im Schatten der Militärdiktaturen. Den größten gesellschaftlichen Riss erzeugte der Militärputsch im Jahr 1980. Zwei Jahre nach dem Putsch sollte eine neue nationalistische Verfassung Stabilität schaffen.

 

Die Verfassung vom November 1982

1982 verabschiedete die Türkei eine neue Verfassung, die im Zuge des Militärputsches von 1980 entstanden war. Diese Verfassung ist bis heute in Kraft und hat viele Änderungen erfahren. Die Verfassung von 1982 definiert die Türkei als „demokratische, säkulare und sozialstaatliche Republik“. Sie stärkte die exekutive Funktion des Staatspräsidenten und schwächte die parlamentarische Demokratie. 

Die Verfassung wurde im November 1982 unter der damals noch herrschenden Militärdiktatur durch eine sogenannte Volksabstimmung legitimiert, die aber unter höchst undemokratischen Bedingungen stattfand. Mit ihr wurde gleichzeitig der Junta-Chef Kenan Evren zum Staatspräsidenten auf sieben Jahre gewählt. Unter Wahlpflicht und Unterbindung einer öffentlichen Diskussion wurde die neue Verfassung mit 91,2 Prozent Ja-Stimmen angenommen. Das Parlament war ohnehin infolge des Putsches entmachtet worden, so dass der Verfassungsentwurf allein vom Militär ausgearbeitet wurde. Die Generäle schafften es aber nicht, ein Zweiparteiensystem zu installieren. Das Ergebnis war eine Verfassung, die den Staat vor der Gesellschaft zu schützen suchte und ihn über die Interessen der Bürgerinnen und Bürger stellte.

Die zentrale Kritik an der Verfassung von 1982 konzentriert sich darauf, dass die Verfassung ein autoritäres Regierungssystem etabliert hatte, das der Regierung und dem Präsidenten weitreichende Macht verlieh. Dies führte dazu, dass die Regierung und der Präsident oft die Grenzen der Macht überschritten und die Gewaltenteilung verletzten. Die Einführung der Staatssicherheitsgerichte, des Antiterrorgesetzes und Sprachenverbotsgesetzes haben wiederum zu einer Einschränkung der Menschenrechte und der Presse- und Meinungsfreiheit geführt. Zum Beispiel wurden Medienschaffende, kritische politische Oppositionelle, linke sowie kurdische Politikerinnen und Politiker oft unter dem Vorwand der „nationalen Sicherheit“ und des „Separatismus“ festgenommen, verhaftet oder angeklagt. Die Gerichte waren und sind oft nicht unabhängig und unterliegen politischen Einflüssen. Hinzu kommt, dass die Verfassung von 1982 das Konzept des Laizismus auf eine Art und Weise definierte, die oft dazu verwendet wurde, um religiöse Minderheiten zu diskriminieren. Obwohl die Verfassung die Glaubensfreiheit garantiert, wurden nichtmuslimische Minoritäten (z. B. Aleviten, Armenier, Christen, Eziden u. a.) diskriminiert und in ihren Rechten beschränkt. 

Die Grundlagen der Verfassung von 1982 bestanden auch in der AKP-Ära von Recep Tayyip Erdoğan. Erdoğan und seine AKP versuchen nun, langfristig im Land ein autokratisches Regime zu verfestigen, benötigten hierfür aber eine grundlegende Legitimation. Diese Legitimation wurde ihnen insbesondere im Zuge des gescheiterten Putsches vom 15. Juli 2016 geboten, der ihnen den Weg für eine grundlegende Verfassungsänderung und eine neue, auch militärisch fundierte Machstellung ebnete (Bozay/Kaygısız 2017: 50 f.).

Verfassungsänderung in der AKP-Ära: Erdoğan als Zentrum der Macht

Seit April 2017 erlebt das politische System der Türkei einen tiefgreifenden Umbruch, der Staatspräsident Erdoğan eine zentrale politische Alleinherrschaft legitimierte und faktisch das System der parlamentarisch kontrollierten Regierung abschaffte. So wurde die bestehende türkische Verfassung durch ein Referendum umfassend verändert. Seitdem hat die Türkei den Weg zu einem „sogenannten“ Präsidialsystem eingeschlagen, das allerdings wenig mit dem klassischen politikwissenschaftlichen Verständnis eines Präsidialsystems gemein hat. Mit den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Juni 2018 wurde diese Entwicklung abgeschlossen und umgesetzt.

Die am 16. April 2017 angenommene Verfassungsänderung war keine klassische „Novellierung“, sondern führte zu einer grundlegenden Veränderung im System, wie es sie seit der Gründung der Republik in dieser Form nicht gegeben hatte. Dieser Wechsel führte zu einer großen Machtverschiebung zugunsten der Exekutive und zum Nachteil des Parlaments. Faktisch existiert in der Türkei keine Gewaltenteilung mehr, denn die Staatsgewalt geht allein vom Präsidenten aus. Während mit der neuen Verfassungsänderung der Staatspräsident im Zentrum der Macht steht, wird in dieser Verfassung auch die zentrale Stellung des Militärs nun durch einen machtpolitischen Einzelherrscher ersetzt. Hinzu kommt, dass auch das Amt des Ministerpräsidenten abgeschafft wurde.

Der für fünf Jahre von der Bevölkerung gewählte Staatspräsident ist somit das Staatsoberhaupt und verfügt über weitreichende Befugnisse. Er kann Präsidialverordnungen erlassen und eine Reihe von Schlüsselpositionen im Staatsapparat allein besetzen, vor allem in der Justiz, im Militärwesen und an Universitäten. Demnach besitzt der Präsident die Befugnis, Minister, Richter und Rektoren zu ernennen und zu entlassen, den Staatshaushalt zu planen und für wichtige politische Entscheidungen Dekrete erlassen. Zudem kann er ein Veto gegen die vom Parlament verabschiedeten Gesetze einlegen, wenngleich das Parlament dieses Veto mit einer Dreifünftelmehrheit außer Kraft setzen kann. Eine wesentliche Änderung ist auch, dass der Staatspräsident einer politischen Partei angehören kann, auch wenn er offiziell verpflichtet ist, sein Amt „neutral“ auszuüben.

Seit der Umsetzung dieser Verfassungsänderungen fungieren Minister nur noch als hochrangige politische Beamte, die vom Staatspräsidenten nach Belieben ernannt und entlassen werden können. Der Präsident kann sogar per Dekret neue Ministerien schaffen und bestehende aufheben. Darüber hinaus kann der Präsident beliebig viele Stellvertreter für sich ernennen und abberufen. Parlamentarische Kontrollinstanzen wie das Misstrauensvotum oder die mündliche Befragung des Präsidenten oder der Minister vor dem Parlament gibt es nicht mehr. Es bleiben nur noch schriftliche Anfragen, deren Beantwortung im Ermessen des Präsidenten oder seiner Stellvertreter liegen.

Durch die Verfassungsänderung von der parlamentarischen Demokratie hin zu einem Präsidialsystem nach türkischer Art hat Erdoğan eine gestärkte Machtposition gewonnen, die er bereits seit 2005 neu zu definieren versuchte. Im Zuge des sogenannten „gescheiterten Putsches“ vom Juli 2016 bekam er in diesem Bestreben Rückenwind und konnte durch ein Referendum diese radikalen Änderungen mit knapper Mehrheit durchführen. Während er für diese Verfassungsänderung als engen Partner die rechtsextreme MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung/Milliyetçi Hareket Partisi) gewinnen konnte, hatte sich die Opposition mit der sozialdemokratischen CHP (Republikanische Volkspartei/Cumhuriyet Halk Partisi) und der linksgerichteten prokurdischen HDP (Demokratische Partei der Völker/Halkların Demokratik Partisi) an der Spitze gegen die Umwandlung in ein Präsidialsystem gestellt

Aufgrund seiner machtvollen Rolle dominiert Staatspräsident Erdoğan auch den Hohen Wahlausschusses (YSK). Nach Angaben des Wahlamtes stimmten 2017 beim Referendum 51,4 Prozent der Wählerinnen und Wähler für die Verfassungsänderung, 48,6 Prozent stimmten dagegen. Bei der landesweiten Auszählung der Ergebnisse zeigten sich Unregelmäßigkeiten, weil inoffizielle Stimmzettel, also Stimmzettel ohne amtlichen Stempel, aufgetaucht waren. Dies deutet darauf hin, dass bereits gefälschte Stimmzettel im Umlauf waren und es sich um eine mögliche Wahlmanipulation handelte. Die darauffolgende Entscheidung des Wahlamtes war ein Skandal: Ungestempelte Stimmzettel und Umschläge waren zwar ungültig, wurden aber für rechtsgültig erklärt. Die Klage gegen diese mögliche Wahlmanipulation durch die Oppositionsparteien CHP und HDP blieb jedoch erfolglos

Ähnliche Entwicklungen zeigten sich beim Ausgang der Bürgermeisterwahl in Istanbul Ende März 2019. Die AKP gewann zwar bei den Kommunalwahlen landesweit eine knappe Mehrheit, doch wichtige Metropolen, darunter Istanbul und Ankara, verlor sie an die oppositionelle CHP. In Istanbul lag Ekrem İmamoğlu von der CHP mit etwa 24.000 Stimmen knapp vor dem ehemaligen Ministerpräsidenten Binali Yıldırım (AKP). Bei der Abstimmung in Istanbul sprach Erdoğan sogar von „organisierter Kriminalität“  und AKP sowie MHP legten gemeinsam eine „außerordentliche Beschwerde“ beim Hohen Wahlausschuss ein. Durch den politischen Druck auf die Wahlbehörde wurde die Bürgermeisterwahl in Istanbul wegen angeblicher Regelwidrigkeiten im Juni 2019 wiederholt. Bei der Wahlwiederholung gewann İmamoğlu von der CHP erneut, diesmal jedoch mit einem Vorsprung von über 800.000 Stimmen, was etwas mehr als 54 Prozent der Stimmen bedeutete. Nun droht dem Istanbuler Bürgermeister İmamoğlu, der in der Öffentlichkeit zugleich als potenzieller Herausforderer von Erdoğan angesehen wird, ein Politikverbot, weil er angeblich 2019 die türkische Wahlbehörde beleidigt haben soll. Im Dezember 2022 wurde er wegen angeblicher Beleidigung von einem Istanbuler Gericht zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monaten verurteilt. İmamoğlu kann bis zu einem rechtskräftigen Urteil weiter im Amt bleiben.

Durch seine in der Verfassungsänderung abgesicherten Rolle als dominierendes Machtzentrum setzt sich Erdoğan oft über die Verfassung hinweg. Die gegenwärtige Verfassung schreibt zwar vor, dass der Staatspräsident maximal für zwei Amtszeiten regieren kann, doch Erdoğan kandidiert im Mai 2023 auch zum dritten Mal für das Amt des Staatspräsidenten. Nach zahlreichen Verfassungsjuristen und nach der Opposition dürfte Erdoğan, der bereits 2014 zum ersten und 2018 zum zweiten Mal für das Amt des Staatspräsidenten gewählt worden war, auf der Grundlage der Verfassung nicht ein drittes Mal kandidieren. Dies wäre nur möglich, wenn das Parlament vorzeitige Wahlen erzwingen würde. Die Regierungskoalition aus AKP und der rechtsextremen MHP argumentiert trotz der bestehenden Skepsis und Kritik, dass Erdoğan erst 2018 nach einer Verfassungsänderung als erster Präsident eines neuen „Präsidialsystems“ gewählt worden sei. Trotz der juristischen Einschätzung und politischen Kritik stellt sich Erdoğan faktisch über die Verfassung.

Dies zeigte sich auch bei dem Urteil gegen Can Dündar, den damaligen Chefredakteur der Tageszeitung Cumhurriyet, und Erdem Gül, den Ankara-Vertreter von Cumhurriyet: Beide Journalisten wurden im November 2015 wegen angeblicher „Unterstützung einer terroristischen Organisation, Spionage und Weitergabe von Staatsgeheimnissen“ verhaftet und verurteilt. Dündar und Gül argumentierten in einer beim türkischen Verfassungsgericht eingelegten Petition, dass die Verhaftungsentscheidung gegen die Meinungsfreiheit verstoße und nicht mit den Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des türkischen Verfassungsgerichts übereinstimmen würden. Das Justizministerium, das der Verfassungsgerichtshof um eine Stellungnahme gebeten hatte, machte auf die Urteile des EGMR zur Meinungsfreiheit aufmerksam und betonte, diese Kriterien der Meinungs- und Pressefreiheit müssten berücksichtigt werden. Daher stimmte das Verfassungsgericht dem Antrag von Can Dündar und Erdem Gül zu. Staatspräsident Erdoğan stellte sich über die Entscheidung des Verfassungsgerichts und erklärte, er werde die Entscheidung des Verfassungsgerichts „nicht befolgen und respektieren“ . Auch akzeptiert Erdoğan das EGMR-Urteil zur „sofortigen Freilassung“ des ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtaş nicht, der seit 2016 inhaftiert ist. Nach dem EGMR-Urteil aus dem Jahr 2020 ist Demirtaş aus politischen Gründen inhaftiert. Erdoğan erklärte öffentlich, für ihn sei dieses EGMR-Urteil nicht bindend. Zudem machte er seine Position deutlich mit der Aussage: „Der EGMR kann keine Entscheidung treffen, die unsere Gerichte ersetzt.“

Letztlich ist die historische und aktuelle Entwicklung der türkischen Verfassung eng an die politische Praxis des Landes gebunden. Trotz der zahlreichen und weitreichenden Veränderungen, die die türkische Verfassung über die Jahrzehnte hinweg erfahren hat, bildet der Übergang zu einem autokratischen „Präsidialsystem“ unter islamischem und neoosmanischem Vorzeichen eine politische Zäsur, die den Personenkult und die Alleinherrschaft Erdoğans noch mehr stärkte und damit das Land vor neue Herausforderungen stellt.

Linksammlung

Quellen & weitere Infos

Links

Bundeszentrale für politische Bildung

Das neue politische System der Türkei

Vom Osmanischen Reich zur Republik Türkei

Verfassungsgeschichte der Türkei

Die politische Praxis: Institutionen und Verfahren

Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)

Das türkische Präsidialsystem

Deutsches Orient-Institut, Berlin

Die Verfassungsänderung in der Türkei

Die Verfassung der Republik Türkei (Stand: Januar 2021; in deutscher Sprache)

https://www.tuerkei-recht.de/downloads/verfassung.pdf

 

Literaturhinweise

  • Ayres, Ron u. a.: Türkei – Staat und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1987.
  • Bozay, Kemal/Kaygısız, Hasan: Der neue Sultan. Die Türkei zwischen Repression und Widerstand, Köln 2017.
  • Buhbe, Matthes: Türkei – Politik und Zeitgeschichte, Opladen 1996.
  • Rumpf, Christian: Das türkische Verfassungssystem: Einführung mit vollständigem Verfassungstext, Wiesbaden 1996.
  • Rumpf, Christian/Steinbach, Udo: Das politische System der Türkei, in: Wolfgang Ismayr (Hrsg.): Das politische System Osteuropas, Wiesbaden 2004.
  • Şahinler, Menter: Kemalismus. Ursprung, Wirkung und Aktualität, Hückelhoven 1997.
  • Tanör, Bülent: Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri: 1789–1980, 2. Aufl., İstanbul 1995.

Letzte Aktualisierung: März 2023

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