Rückblick: Hans Filbinger, Wyhl und die RAF
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Eine Veranstaltung der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
in Kooperation mit Prof. Dr. Philipp Gassert, Universität Augsburg
Die Siebziger sind die Jahre „danach“: nach „68“ und „nach dem Boom“. Es ist die Zeit eines grundlegenden Wertewandels in der westdeutschen Gesellschaft.
Nun gewinnen postmaterialistische Werte wie Naturerhaltung, Partizipation, Selbstbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit an Bedeutung – mit Auswirkungen nicht zuletzt auf Milieus, Parteienlandschaft und Kultur.
Die Krisen der Siebziger setzen der Fortschritts- und Technikgläubigkeit ein jähes Ende. Der Ölschock und der Streit um die Kernkraft bewirken einen Stimmungsumschwung.
Optimismus schlägt um in Zukunftsangst. Auch die Kunst- und Kulturlandschaft ist von Turbulenzen geprägt. Zugleich fordert der Terrorismus der RAF die Verantwortlichen in Staat und Justiz, aber auch die gesamte Gesellschaft heraus.
Videomitschnitte vom Zeitzeugengespräch finden Sie hier
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Die Siebziger sind auch die Zeit, in der sich das junge Baden-Württemberg in seiner Identität festigt. Kaum ein Politiker im Land hat dieses Jahrzehnt so geprägt wie Ministerpräsident Hans Filbinger (CDU). Er hat die „Badenfrage“ abschließend geregelt und dadurch die Gebiets- und Verwaltungsreform ermöglicht, die dem Land seine heutige administrative Struktur gab. Er hat das Schul- und Hochschulwesen ausgebaut und nicht zuletzt seiner Partei absolute Mehrheiten verschafft. Aber er war auch einer der umstrittensten Politiker seiner Zeit, der 1978 wegen seiner Tätigkeit als Marinerichter in der Endphase der NS-Diktatur zurücktreten musste.
Die Regierung Filbinger setzte fortschrittsgläubig auf die Atomenergie. Ausgerechnet am geologisch auffälligen Oberrhein plante die Landesregierung in Wyhl am Kaiserstuhl ein neues Atomkraftwerk. Bürgermeister und Gemeindevertreter waren zunächst für das Projekt, versprach es doch Arbeitsplätze und Steuern. Die Bekanntgabe dieser Pläne führte zu einem noch nie dagewesenen Massenprotest von Einwohnern benachbarter Gemeinden, die immer weitere Kreise zog. Mit vielen neuartigen friedlichen und einfallsreichen Protestaktionen, Geländebesetzungen und Demonstrationen wurde das Projekt Atomkraftwerk Wyhl von der Landesregierung zunächst gestoppt und schließlich ganz aufgegeben.
Die Auseinandersetzung der Politik mit der „Roten Armee Fraktion“ (RAF) brachte den Staat an die Grenzen der Demokratie: Auf Erpressung antwortete der Staat zunächst noch mit Verhandlungen, als dies den Terrorismus aber eher stärkte als verhinderte, überwachte der Staat ohne Vorliegen eventueller Verdachtsmomente mithilfe der „Rasterfahndung“ einen großen Teil seiner Bevölkerung. Baden-Württemberg stand im Zentrum der RAF-Jahre. Die Wende brachte der „Deutsche Herbst“ 1977, als Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer entführt wurde, um die in Stuttgart-Stammheim inhaftierte erste Generation der RAF freizupressen. Kurze Zeit später wurde die Lufthansa-Maschine „Landshut“ entführt und über Umwege schließlich nach Mogadischu in Somalia geflogen, wo die Geiseln in einer aufsehenerregenden Aktion durch den Bundesgrenzschutz befreit wurden. Die in Stammheim inhaftierten RAF-Terroristen Baader, Ensslin und Raspe hörten vom Scheitern durch von ihren Anwälten ins Gefängnis geschmuggelten Radios und brachten sich noch in derselben Nacht um.
Programm
Erstes Panel:
Ein Ministerpräsident prägt das Jahrzehnt
Ein Mann in seiner Zeit – Hans Filbinger (1913–2007)
Dr. Erik Lommatzsch, Universität Augsburg
Der künftige Biograph Hans Filbingers umriss die Biographie des ehemaligen Ministerpräsidenten und betonte dabei auch die modernen, reformerischen Elemente im politischen Leben Filbingers. Er machte auch darauf aufmerksam, dass man aufpassen müsse, dass die Diskussion über Filbingers Vergangenheit als Marinerichter im Nationalsozialismus die Lebensleistung des Politikers nicht verdecke.
Vergangenheit, die nicht vergehen durfte
Prof. Dr. Peter Steinbach, Universität Mannheim und Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin
Prof. Steinbach benannte die Unfähigkeit Filbingers, sich zu erklären und sich den veränderten Gegebenheiten der 70er-Jahre anzupassen, als den eigentlichen Grund für seinen Rücktritt. Er betonte auch die Notwendigkeit, die Zeitumstände der 70er-Jahre bei der Diskussion um Filbingers Rücktritt zu beachten.
Zweites Panel:
Zur „Innenarchitektur“ des Landes
Schulkompromiss und Hochschulausbau
Dr. Stefan Paulus, Universität Augsburg
Dr. Stefan Paulus skizzierte die Bildungs- und Wissenschaftspolitik seit der Ära Kiesinger in Baden-Württemberg. Kiesinger sei der „tatkräftige Visionär“ gewesen, Filbinger derjenige, der den Weg solide weitergeführt habe. Als eigentlichen Motor der expansiven Schul- und Hochschulpolitik bezeichnete Dr. Paulus den seinerzeitigen Kultusminister Wilhelm Hahn.
Die zweite innere Landesgründung: die Gebiets- und Verwaltungsreform
Prof. Dr. Hans-Georg Wehling, Universität Tübingen
Prof. Wehling erinnerte an die großen Konflikte der Gebiets- und Verwaltungsreform der 70er-Jahre, die vor allem aus dem Willen zur Modernisierung und aus dem Geist der großen Koalition heraus zu verstehen seien.
Parteienlandschaft und politische Milieus
Prof. Dr. Philipp Gassert, Universität Augsburg
Prof. Gassert erklärte die Genese des baden-württembergischen Parteiensystems und seine Ausdifferenzierung in den 70er-Jahren bis hin zur Gründung der Grünen 1979/80. Vor diesem Hintergrund erst ist zu verstehen, warum bestimmte starke und vom bundesdeutschen Trend abweichende Phänomene in Baden-Württemberg zu erkennen sind: eine überaus starke FDP/DVP, die jahrzehntelange Dominanz der CDU sowie die starken Grünen im Land.
Drittes Panel:
Herausforderungen und Umbrüche
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Wyhl als Geburtsort der Anti-AKW-Bewegung
Prof. Dr. Ulrich Eith, Direktor des Studienhauses Wiesneck, Institut für politische Bildung Baden-Württemberg e.V./Universität Freiburg
Prof. Eith ordnete den erfolgreichen zivilen Widerstand gegen das im südbadischen Wyhl geplante Atomkraftwerk in das deutsch-französische Protestgeschehen ein und verortete das Symbol „Wyhl“ innerhalb der Geschichte der Anti-AKW-Bewegung sowie als Wegmarke in der Entwicklung hin zur Gründung der Grünen in Baden-Württemberg, die auch deshalb im südbadischen traditionell stark verankert seien.
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Die RAF – Herausforderung für Staat und Gesellschaft
Dr. Sabrina Müller, Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Dr. Müller thematisierte den Terror der RAF als Herausforderung für Staat und Justiz, aber auch als Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Sie skizzierte neuere Forschungsansätze, etwa zum Terrorismus als Kommunikationsstrategie und als Provokation des Staates, der wiederum mit einer vehementen Verteidigung des Gewaltmonopols reagierte.
Die Eskalation des Engagements – Gründe zur Rebellion damals und heute
Wolfgang Schorlau, Schriftsteller, Stuttgart
Wolfgang Schorlau ging – von eigenen biographischen Erfahrungen ausgehend – auf vermeintliche Erfolge und Fehler der 68er-Generation ein. „Wir, die Jugend mit den langen Haaren“, so der Schriftsteller, „waren Filbingers Feinde. (…) Die Ziele waren diffus, aber doch irgendwie eindeutig. Es ging um soziale Gerechtigkeit, um Freiheit, auch sexuelle Freiheit, um ein humanes Leben, in dem nicht länger Status und Etikette entscheidend waren.“
Zeitzeugengespräch:
Aufbruch und Protest – Rückblick auf ein bewegtes Jahrzehnt
Es unterhielten sich:
Prof. Dr. Herta Däubler-Gmelin
Bundesministerin a. D.
Susanna Filbinger-Riggert
Unternehmensberaterin und Autorin
Gerhard Goll
Ex-EnBW Vorstandsmitglied
Rezzo Schlauch
Parlamentarischer Staatssekretär a. D.
Manfred Zach
Schriftsteller und Ministerialdirigent
Moderation: Axel Graser, SWR
Mitschnitt 1: Hans Filbinger in der Diskussion
Mitschnitt 1
Mitschnitt 2: Filbinger Affäre - Umgang mit der Vergangenheit
Mitschnitt 2
Mitschnitt 3: Filbinger Affäre - Krisenmanagement
Mitschnitt 3
Mitschnitt 4: Wyhl und die Grünen