Talkessel: „In heißen Phasen abkühlen“
Dr. Nicole Hoffmeister-Kraut, baden-württembergische Landesministerin für Wirtschaft, Arbeit und Wohnungsbau, über Wohnungsmangel in Stuttgart, die Notwendigkeit vorrausschauender Stadtentwicklung und die Ziele der Landespolitik. Ein Interview vom 20.12.2017, geführt von Jillian Freitag.
Was ist Ihnen wichtig, wenn es um das Thema „Wohnen in Stuttgart“ geht?
Hoffmeister-Kraut: In Stuttgart treffen mehrere Faktoren zusammen, die dafür sorgen, dass der Wohnungsmarkt in der Stadt und im Umland besonders angespannt ist:
Zum einen macht die hohe Wirtschaftskraft die ganze Region äußerst attraktiv, zieht immer mehr Menschen an, die dann hier eine Wohnung suchen. Gleichzeitig sind einer Ausweitung des Wohnungsbestandes auf Stuttgarts Gemarkung und einer Reihe von Umlandgemeinden enge Grenzen gesetzt. Außerdem werden in den kommenden Jahren viele Menschen der geburtenstarken Jahrgänge, also die einstigen „Babyboomer“, aus dem Erwerbsleben ausscheiden, ohne deshalb der Region den Rücken zu kehren. Damit entsteht weiterer Bedarf an Wohnraum für die große Anzahl der Beschäftigten, die an ihre Stelle treten.
Das alles müssen wir für Stuttgart und sein Umland, aber auch für das Land insgesamt mit seinen regionalen Unterschieden, die das Wohnungsangebot betreffen, in den Griff bekommen. Dabei liegt unser besonderes Augenmerk auf der Bezahlbarkeit des Wohnungsangebotes.
Die derzeitige Wohnsituation in Stuttgart
Zahl der Einwohner, Mietpreise und weitere Fakten rund um das Thema „Wohnen in Stuttgart“
Welche Ziele verfolgen Sie, um Wohnraum in Stuttgart auszubauen oder zu optimieren?
Unsere zentrale Aufgabe als Landespolitik ist es, die Rahmenbedingungen so zu verändern, dass rasch mehr und vor allem mehr preisgünstiger Wohnraum entsteht, wo entsprechender Bedarf besteht. Wie wir dieses Ziel erreichen können, erörtern wir im Rahmen der von mir im Sommer 2016 ins Leben gerufenen Wohnraum-Allianz, die inzwischen eine Vielzahl von Empfehlungen an die Politik formuliert hat und noch weiter erarbeiten wird. Diese Empfehlungen beinhalten beispielsweise die Entschlackung der ordnungsrechtlichen Vorgaben in der Landesbauordnung oder die Straffung der Verwaltungsverfahren bei der Schaffung der planungsrechtlichen Grundlagen und zur Erlangung der Baugenehmigung. Außerdem hat sie Ideen zur Optimierung der sozial orientierten Wohnraumförderung des Landes entwickelt und Empfehlungen an den Bund, etwa auf dem Gebiet des Steuer- oder Wohngeldrechts.
Ganz wichtig ist allerdings, dass wir die Gemeinden gleichzeitig dazu bewegen, durch ihre Planungshoheit die Voraussetzungen insbesondere für mehr Geschosswohnungsbau zu schaffen. Die Gemeinden müssen ihre planungsrechtlich gegebenen Möglichkeiten wahrnehmen, damit auch tatsächlich gebaut wird. An dieser Stelle sind auch die Gemeinden des Umlandes von Stuttgart gefragt. Diese profitieren von den vielfältigen Zentralfunktionen der Landeshauptstadt, bilden aber zugleich auch eine regionale Verantwortungsgemeinschaft, wenn es um die Schaffung von mehr preisgünstigem Wohnraum geht, der bevorzugt im Geschosswohnungsbau entsteht.
Je breiter der Konsens in dieser Sichtweise wird, umso leichter wird es gelingen, die zukünftigen Wohnungsangebote auch sozialverträglich zu integrieren.
Wo tut sich hinsichtlich des Wohnens derzeit in Stuttgart etwas? Wo hat sich bereits etwas getan? Welche Veränderungen sind in Stuttgart in den letzten zwanzig Jahren zu verzeichnen, wenn man sich die Wohnsituation der Stadt betrachtet?
In Stuttgart sind in den letzten Jahren erhebliche Anstrengungen unternommen worden, um das Wohnungsangebot zu erweitern. Seit 2010 sind aber mehr als 40.000 neue Einwohner hinzugekommen – ein deutliches Zeichen der Attraktivität unserer Landeshauptstadt. Der Wohnungszuwachs von rund 8.000 Wohnungen in diesem Zeitraum hat nicht ausgereicht, um den Druck auf den ohnehin schon angespannten Wohnungsmarkt der Stadt abzubauen. Im Gegenteil: Die am Markt auch angesichts der guten wirtschaftlichen Lage durchsetzbaren Mieten sind deutlich gestiegen. Gleichzeitig ist so auch die Zahl der gemeinsam in einer Wohnung lebenden Menschen in Stuttgart gestiegen – entgegen dem allgemein zu beobachtenden Trend. Nicht immer werden die neu entstandenen Wohngemeinschaften den Wohnwünschen der Menschen entsprechen.
Das zentrale Problem auf dem Weg zu mehr Wohnraum ist gerade in Stuttgart die Verfügbarkeit von Bauflächen. Und diese können nur in engen Grenzen geschaffen werden, bis durch Stuttgart 21 im nächsten Jahrzehnt größere Potenziale auf den Markt kommen werden. Vorhandene Wald-, Landwirtschafts- oder Erholungsflächen werden in dem schon dicht bebauten Siedlungsraum der Landeshauptstadt auch künftig dringend dafür gebraucht, damit sich der Talkessel in heißen Phasen abkühlen kann.
Worin sehen Sie die Probleme in der derzeitigen Wohnsituation Stuttgarts? Haben Sie Vorstellungen, wie es diese zu lösen gilt?
Auch in Stuttgart müssen sich alle Beteiligten einer folgenreichen Entwicklung stellen, die durch das Auslaufen von mitunter vor Jahrzehnten begründeten Sozialbindungen in älteren Wohnungsbeständen bedingt ist. Die gebundenen Wohnungsbestände im Land sind zuletzt über viele Jahre rückläufig gewesen. Für die nächsten Jahre müssen kontinuierlich mindestens jeweils 1.500 neue Sozialwohnungen errichtet werden, nur um diesen Rückgang zu stoppen. Um den wünschenswerten Zuwachs an Sozialwohnungen zu erreichen, sollten nach einem aktuellen Gutachten besser bis zu 6.000 neue Sozialwohnungen jährlich geschaffen werden. Diese können trotz weitreichender Förderangebote nur dann entstehen, wenn dafür Flächen zur Verfügung gestellt werden. Das vergleichsweise hohe Niveau des Sozialwohnungsbestandes in Stuttgart auf diese Weise längerfristig zu sichern und auszubauen, muss meines Erachtens ein zentrales Anliegen einer verantwortlichen Kommunalpolitik sein.
Was erwarten Sie für die Zukunft Stuttgarts hinsichtlich des Wohnens? Was wünschen Sie sich?
Das Wohnen in Stuttgart wird sicher auch in Zukunft vergleichsweise teuer sein. Ich wünsche mir aber, dass es gelingt, das Wohnen in der Stadt für jene Menschen erschwinglich zu halten, die lediglich über geringere oder auch nur durchschnittliche Einkommen verfügen. Gelingen kann das über ein breites Angebot preisgünstigen Wohnraums, besonders auch sozial gebundenen Wohnraums. Zugleich müssen wir prüfen, ob die Instrumente der finanziellen Unterstützung der einzelnen Haushalte – auch über geförderte Wohnungsbestände hinaus – hinreichend tragfähig ausgestaltet sind. Damit meine ich beispielsweise die Wohngeldleistungen, die einen Beitrag zu den Wohnkosten leisten.
Was sagen Sie zum Thema Gentrifizierung (in Stuttgart)?
Gentrifizierung meint die Umstrukturierung einzelner Quartiere. Ein entsprechendes Wohnumfeld wird durch Restaurierungs- und Umbauarbeiten veredelt und lockt dann Besserverdiener an. Diese setzen nach und nach einen anderen Lebensstandard durch, der auch Mieterhöhungen nach sich zieht.
Den negativen Aspekten solcher Entwicklungen müssen wir natürlich möglichst entgegenwirken, denn der gesamtgesellschaftliche Zusammenhalt einer Stadtgesellschaft ist meines Erachtens eine wesentliche Grundlage sozialen Friedens. Hier rechtzeitig Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, ist eine der wichtigen Aufgaben vorausschauender Stadtentwicklung.
Wem gehört die Stadt?
Den Menschen, die dieser Stadt in ihrer ganzen Vielfalt ihr Gesicht geben.
Gentrifizierung - was ist das?
Informationen zu Gentrifizierungsprozessen, deren Problematik und was die Politik damit zu tun hat.
Gentrifizierung in Stuttgart
Findet Gentrifizierung in Stuttgart statt? Wo sind Gentrifizierungsprozesse in Stuttgart zu verzeichnen und was tut die Stadt, um negative Entwicklungen zu bremsen?
Stand: Dezember 2017